Editorial

Willy Brandt – Kämpfer, Seelsorger, Botschafter Berlins

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Jochim Stoltenberg

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Er war Bundeskanzler, Regierender Bürgermeister - und eine Legende. Das Special zu seinem 100. Geburtstag.

Acht Bundeskanzler haben bislang unser Land regiert. Alle mehr oder etwas weniger geachtet. Aber auch populär, charismatisch – das war nur einer: Willy Brandt. Wenn er in diesen Tagen in den Glückwunschartikeln und Sendungen zu seinem 100. Geburtstag überschwänglich gewürdigt und gefeiert wird, gerät oft ein wenig aus dem Blick, welch entscheidende Rolle Berlin für seinen politischen Überflug gespielt hat. Hier liegen die Fundamente für den Aufstieg zum Staatsmann und Friedensnobelpreisträger.

Es ist seine Ostpolitik, die ihn zur Jahrhundertgestalt werden lässt. Geboren aus seiner Erfahrung als Regierender Bürgermeister dieser Stadt, als die westlichen Schutzmächte, allen voran Amerika, reaktionslos den Bau der Mauer mitten durch die Stadt hinnehmen. Für Willy Brandt aus Enttäuschung das Signal, nicht länger abzuwarten, sondern selbst aktiv zu werden. Hier in Berlin entwickelt er die strategischen Grundzüge seiner Entspannungspolitik, basierend auf der Prämisse „Wandel durch Annäherung“.

Für ihn selbst ist dieser Wandel – was heute weitgehend vergessen ist – auch mit einer persönlichen Umkehr verbunden. Lange gilt er als „Kalter Krieger“, gestählt als Mitarbeiter von Ernst Reuter während der Blockade und durch den innerparteilichen Kampf mit seinem Kontrahenten Franz Neumann und dessen „Keulenriege“ um die Macht in der Berliner SPD. Es ist ein Ringen zwischen den Befürwortern einer Westintegration der Bundesrepublik, deren Wortführer in Berlin Willy Brandt ist, und deren entschiedene Gegner vom linken Flügel um Neumann, der dagegen polemisiert, weil eine solche pro-westliche Politik unvereinbar sei mit der Forderung nach Wiedervereinigung der Stadt und des Landes. Dieser Richtungskampf wird erst 1958, da ist er schon ein Jahr Regierender Bürgermeister, zu Brandts Gunsten entschieden.

Das Special zum 100. Geburtstag von Willy Brandt

Doch Brandt ist nicht nur Kämpfer, er ist auch Seelsorger. In dem Sinne, dass er den bedrängten und bedrohten Berlinern, was sich heute nur noch Wenige vorstellen können, Hoffnung und Mut zum Ausharren und Überleben auf ihrer Insel der Freiheit macht. Da das Berlin der Krisenjahre immer auch im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit steht, wird zugleich ihr „Regierender“ ein Mann von Welt. Als Botschafter Berlins und damit der Freiheit reist er durch die Welt, wird von Staatsmännern empfangen und empfängt sie in seiner von Kommunisten bedrohten Stadt. So wird er ein Großer, dessen weiterer Aufstieg – auch das ist weitgehend in Vergessenheit geraten – mit Brüchen verbunden ist.

Erst im dritten Anlauf, nach dem zweiten gescheiterten will er schon aufgeben, schafft er den Sprung ins Kanzleramt. Und muss gleich wieder zittern, als er ein Misstrauensvotum dank zwei – wohl ohne sein Wissen – gekaufter Stimmen übersteht. Es folgt der fulminante Wahlsieg 1972, in dessen Folge Willy Brandt zu der Polit-Ikone wird, als die er in die Geschichte eingeht. Mit der Ostpolitik schreibt er sich in die Geschichtsbücher, mit seiner Vita als heimgekehrter, Nazi-Regime unbefleckter Emigrant wird er zum guten Deutschen für eine junge Generation, die mit der Verstrickung ihrer Väter in die braune Vergangenheit ebenso hadert wie mit den restaurativen Tendenzen im Nachkriegsdeutschland der Ära Adenauer.

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“, verspricht der erste Kanzler der SPD nach 39 Jahren und trifft damit den Nerv einer Generation, die nach gesellschaftlichem und politischem Wandel dürstet. Wann hat es das je gegeben, dass für einen Kanzler im demokratischen Deutschland ein Fackelzug aufzieht? Bislang kein Kanzler wieder, der die Menschen bewegt wie heute nur noch Pop-Stars. Ein Kanzler der Herzen, der Massen nicht allein mobilisiert, sie auch begeistert, in seinen Bann zieht.

Das Geheimnis des Erfolgs dieses Menschenfischers? Er ist einerseits ganz nah bei den Menschen, dann wieder scheinbar unnahbar entrückt, was ihn mit einer geradezu mystischen Aura umgibt. Und er kann nicht nur mitreißend reden, er kann auch zuhören; eine unter Politikern höchst seltene Gabe. Aber all das trägt nicht bis zum Ende seiner Kanzlerschaft. Die wirtschaftlichen Probleme des Landes und der Welt (erste Ölkrise) holen ihn ein. Dass sein Nimbus dennoch kaum Schaden nimmt und seine Verehrung bis heute kaum Grenzen zeigt, hat sehr viel mit Art und Weise seines Rücktritts zu tun. Die wird als Brutus-Aktion machtversessener wie neidischer Konkurrenten interpretiert. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, trägt aber dazu bei, dass der Stern Willy Brandt bis heute strahlend leuchtet.

Entscheidend für sein politisches Lebenswerk bleibt seine Öffnung der Tür zum Osten, wie Jahre vorher Konrad Adenauer die Tür zum Westen aufgestoßen hat. Willy Brandt hat damit zweifellos einen wichtigen frühen Beitrag zur späteren Wiedervereinigung geleistet. Dass er sie in seinem Berlin, wo für ihn alles anfing, noch erleben durfte, hat ein langes politisches Leben gekrönt.

Das Special zum 100. Geburtstag von Willy Brandt finden Sie hier.