Netzwelt

Single-Magazin setzt auf Tiefgang statt Oberflächlichkeit

| Lesedauer: 7 Minuten
Julia Friese

Foto: Amin Akhtar

Online-Dating ist viel zu unpersönlich, das finden zwei Berlinerinnen. Den beiden Frauen sind individuelle Profile wichtig. Auf ihrer Plattform „Im Gegenteil“ besuchen sie Singles für eine Homestory.

Am Arbeitsplatz zwischen Konferenz und Meeting flirten, ohne dass es sich um einen Kollegen handelt. Im Browserfenster auf Brautschau gehen, dabei die designierte Lebensabschnittsgefährtin schon vor dem ersten Treffen auf ihren Strandfotos vom jüngsten Ibiza-Urlaub bewundern – all das ist inzwischen Alltag. Bereits im Jahr 2003 ergab eine Emnid-Umfrage, dass Singlebörsen von den Deutschen als drittwichtigste Möglichkeit – hinter Arbeitsplatz und Freundeskreis – zur Partnersuche angesehen und genutzt werden.

Flächendeckend Dating-Apps auf Mobiltelefonen

Was im Vor-Internet-Zeitalter über Zeitungsinserate, Chiffre und Zuschriften abgewickelt wurde, funktioniert heute per Klicken und Scrollen, per Antippen und Wegwischen. Denn: Online Dating mag nichts Neues sein – die flächendeckende Verbreitung von Anwendungen für das Mobiltelefon, die die Umgebung nach verfügbaren Singles durchsuchen, ist es allerdings schon.

Wie die Programme zur punktgenauen Taxibestellung oder Bankfilialen im Umkreis-Suche arbeiten Handy-Dating-Apps mit der Ortungssoftware des Telefons. Die Zugangsschwelle Mitgliedsbeitrag fällt bei den Handy-Anwendungen weg. Mit einem Fingertipp sind sie unübersehbar direkt neben den Nachrichteneingang und der Wettervorhersage installiert.

Absage per Fingerwisch

Die App „Tinder“ schlägt einen sich in der Nähe befindliche, ungebundenen Facebook-Nutzer vor. „OkCupid“ funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip, nur selbstständig, ohne Facebook. Die Profilfotos der Singles im Umkreis werden auf dem Handybildschirm zum Stapel virtueller Polaroidfotos. Per Fingerwisch blättert man sich durch die Köpfe. Gefällt einem eine Person, wischt man ihr Abbild zum rechten Bildschirmrand. Gefällt sie einem nicht, wischt man sie nach links. Ist ein nach rechts gewischter Kandidat ebenfalls mit einem Rechtswisch über das eigene Foto geglitten, kann man miteinander chatten oder gleich ein Treffen vereinbaren.

Online Dating ist heute also, wie ein Blick auf Wetter oder Börse, nur eine weitere Handyfunktion geworden. In Berlins öffentlichen Verkehrsmitteln kann man Jugendliche dabei belauschen, wie sie auch die Attraktivität ihrer Bekannten mit dem Neudeutsch „Swipe left“ (Linkswisch) oder „Swipe right“ (Rechtswisch) beurteilen. Bei den Digital Nativen hat das im Internet ergatterte Rendezvous sein Stigma verloren.

In einer Singlebörse sind längst nicht mehr Menschen, die scheinbar schwer vermittelbar sind. In einer Singlebörse ist der, der ein Smartphone hat. Denn sich durch die Fotomassen fremder Menschen zu wischen, sich tippend zu unterhalten und Privates freimütig mit Unbekannten zu teilen, das ist für einen Smartphone-Nutzer nichts, zu dem er sich erst überwinden müsste. Die Online-Dating-Apps akkumulieren bloß, was er ohnehin täglich auf Instagram, Twitter und Whatsapp treibt.

Singlebörse als Magazin

Online Dating ist unter zeitgeistigen Großstädtern so etabliert, dass sich in Berlin bereits eine Gegenbewegung gebildet hat. Jule Müller, 31, Autorin und Fotografin aus Neukölln, und Anni Kralisch-Pehlke, 30, Künstler-Managerin aus Tempelhof, haben vor wenigen Wochen „Im Gegenteil“ gegründet (imgegenteil.de). Eine Berliner Singlebörse, die sich als Magazin versteht. „Handy Apps wie „Tinder“ machen Singles zur Massenware“, sagt Kralisch-Pehlke. „Es ist doch befremdlich, das man sich täglich durch hundert Fotos klickt und dann jemanden nur auf Grund seines Profilfotos aussortiert.“ Die Bewertung in Sekundenschnelle sei zu oberflächlich.

Kralisch-Pehlke und Müller nehmen sich für ihre vermittlungswilligen Singles jeweils einen Tag Zeit. Fahren zu ihnen nach Hause, fotografieren sie in ihrer Küche, ihren Wohnzimmer oder vor ihrem liebsten Einrichtungsgegenstand und stellen die Fotos neben einem kurzen Porträt auf ihre Seite. Es entsteht eine Mischung aus ausführlicher Annonce und Inneneinrichtungs-Fotostrecke. Die Beiträge werden somit auch für Nicht-Singles interessant, schließlich sind sie nett anzusehen und bedienen den Wunsch des Menschen in das Allerheiligste Fremder blicken zu können.

Karl, 28, aus Friedrichshain war einer der ersten, dessen Porträt auf „Im Gegenteil“ online ging. „Karl war auf gefühlten 10.000 Konzerten und 5.000 Festivals. Gäbe es keine Gitarrenmusik, würde er morgens gar nicht erst aufstehen. Alle seine Jobs haben irgendwas mit Musik und Medien zu tun“, verrät der von Kralisch-Pehlke geschriebene Text. Ein Foto, das einen bunten Strauß aus Backstage-Pässen zeigt, belegt diese Aussage. Karl ist echt. Daran soll es keine Zweifel geben.

50 Zuschriften in zwei Wochen

Innerhalb von zwei Wochen hat der Friedrichshainer 50 Zuschriften bekommen. Getroffen hat er sich aus Zeitgründen mit noch niemanden. „Viele Freunde sind plötzlich auf mich zugekommen und haben mir erzählt, dass sie ihren Partner eigentlich auch im Netz kennengelernt haben“, sagt Karl. „Geschichten, die ich vorher nie gehört habe.“ Er glaubt, wer sich per „Klick“ kennen gelernt hat, spricht nicht so gerne drüber.

Uta, 29, aus Neukölln wurde auf herkömmlichen Online-Börsen mit Zuschriften eindeutiger Absichten überhäuft. Durch das Porträt und die Wohnungsfotos sei das Kennenlernen über die Plattform „Im Gegenteil“ persönlicher. Hier schreibe nur, wer sich wirklich für die betreffende Person interessiere. „Uta kann eigentlich nichts mehr schocken. Sie hat immerhin als Arbeitsvermittlerin beim Arbeitsamt gearbeitet.“ Auf ihre Anzeige bekam sie auch Zuschriften von Berlinern, die Fragen zum Arbeitsamt hatten.

Mit mehreren Interessenten hat sie sich bereits getroffen. Meist sei es „nett“ gewesen. Single ist sie aber noch immer. „So schnell geht das ja nun auch nicht“ sagt die Studentin.

Erstaunlich schöne Wohnungen

Wer auf „Im Gegenteil“ um die Gunst der Besucher buhlen will, muss sich zunächst um die Gunst von Müller und Kralisch-Pehlke bemühen: eine Bewerbung mit Foto schicken. Wen die beiden tatsächlich besuchen, das entschieden sie danach, wer ihrer Einschätzung nach ernsthafte Absichten habe, also wirklich eine feste Beziehung suche. Auf Facebook unken Kommentatoren, dass es nur schöne Menschen mit noch viel schöneren Wohnungen auf die Seite schafften. Müller kontert: „Wir fotografieren ja nur Ausschnitte aus den Wohnungen.“ Kralisch-Pehlke meint, es sei aber schon erstaunlich, wie schön heute alle wohnen würden. Und mit „alle“ meint sie wohl ihre Kernzielgruppe: die jungen, zeitgeistigen Großstädter.

Sechs Monate haben Müller und Kralisch-Pehlke gebraucht, bis sie ihre Idee von einem Berliner Single Magazin umgesetzt hatten. Innerhalb von 24 Stunden, nach dem sie online gingen, haben sie bereits 1000 Facebook-Likes und ein Investorenangebot erhalten. Ihre Idee trifft den Nerv der Zeit. Im kommenden Jahr wollen sie ihr Angebot auf weitere deutsche Großstädte ausweiten.

Wenn sie einen weiteren Fotografen finden, mag sich auch Jule Müller auf ihrer eigenen Webseite präsentieren. Für Anni Kralisch-Pehlke hingegen kommt das nicht in Frage. „Ich bin verheiratet“, sagt sie. Ihren Mann hat sie offline kennengelernt.