Berliner Pferdefreunde kann man grob in zwei Lager einteilen. Auf der einen Seite regiert der elitäre Pferdeglamour: Hier sitzt der Berufssportler im gefetteten Sattel seines jungen Zuchttieres, dessen Zügel er mit Lederhandschuhen hält. Das Tier selbst trägt seine karierte Decke und die weiße Bandagen mit ähnlicher Anmut wie die Herren, im am Hof angrenzenden Pferdekasino ihre Cordjacketts und Ralph-Lauren-Pullunder. So in etwa gesehen zum Beispiel auf der Reitsportanlage am Olympiastadion.
Auf der anderen Seite findet man in Zehlendorf, ein Stück Bullerbü mitten in Berlin: Mädchen mit Wind zerzausten Haaren und dreckigen Turnschuhen, die im Sommer mit den Ponys zum Zelten verreisen, und genauso gerne Hufe auskratzen und wie sie Kratzeis schlecken. Neben Jugendlichen und Erwachsenen, die in dick wattierten Westen vom Schlachter geretteten Pferdepensionären ihr Gnadenbrot geben. „Pferde haben eine meditative Wirkung aus Problemkinder und Autisten“, raunt man sich hier zu. Training heißt bei den Freizeitsportlern Reitstunde. Die Älteren erteilen sie, die Jüngeren absolvieren sie auf einem Schulpferd, das ihnen nicht gehört.
Im Westen und Süden Berlins gibt es die meisten Reiter
Geritten wird in Berlin hauptsächlich im Westen und Süden der Stadt. „Dass es im alten Ostteil Berlins weniger Reitställe gibt, liegt sicher auch daran, dass der Reitsport in der DDR nicht sehr populär war“, sagt Peter Fröhlich, Geschäftsführer des Landesverbandes für Pferdesport Berlin-Brandenburg. „Reiten war zu DDR-Zeiten eher ein Sport, der zumeist in Kooperation mit landwirtschaftlichen Betrieben auf den Dörfern im Umland und nur sehr punktuell in Berlin stattfand.“ Salopp könnte man formulieren: Die Liebe zum Pferd, das war vor dem Fall der Mauer vor allem was für westliche Besserverdienende.
Heute leidet der Berliner Reitbetrieb unter einem Mitgliederschwund. Verzeichnete der Landesverband für Berlin-Brandenburg 2003 noch 6302 Berliner Mitglieder, so sind es heute nur noch 4950. Im Brandenburg hingegen geht der Trend in die andere Richtung. Hier hat sich der Mitgliederbestand seit 1990 auf 10.511 Mitglieder verdoppelt. Verantwortlich ist dafür unter anderem die Abwanderung der Berliner Stadtreiter aufs Brandenburger Land.
Die Ausrittmöglichkeiten sind dort vielfältiger, die Weiden größer und die Stallmiete günstiger. „In Berlin ist die Pferdehaltung schon allein deswegen teurer, weil Streu und Stroh hier nicht angebaut werden, sondern immer aus dem Umland exportiert werden müssen“, sagt Fabian Pagenhardt, Vorsitzender der Berliner Studentenreitgruppe. „In Berlin zahlt man für einen Stall zwischen 500 und 600 Euro monatlich, in Brandenburg bekommt man die gleiche Leistung für die Hälfte des Geldes.“ Viele reitende Berliner Studenten stellten ihr Pferd deswegen in Brandenburg unter, und nähmen nach Vorlesungen und Seminaren lange Fahrzeiten in Kauf, um ihr Pferd noch mal zu bewegen.
Man kümmert sich gemeinsam um ein Pferd
In der Reitanlage am Olympiastadion sind derzeit 75 Prozent der 120 Boxen belegt. Zu den Mietern der Boxen gehören Dressur-, Voltigier- und Springreiter. Doch nicht nur Besserverdienende finden hierher: „Wir haben hier alles vertreten, vom Akademiker bis zum Handwerker“, sagt Gerhard Schröter, Geschäftsführer der Anlage.
Seiner Einschätzung nach ist der Berliner Pferdesport längst nicht mehr so elitär, wie er oft dargestellt wird. „War es früher noch üblich, dass ein Besitzer mehrere Pferde hatte, ist es heute eher Trend, dass sich mehrere Besitzer ein Pferd teilen“, sagt Schröter. Und auch Studenten gehörten zu den Reitern auf seinem Hof. Vor allem Austauschstudenten aus Italien, Polen und Belgien, suchten am Olympiastadion gemeinsam mit ihren Eltern erst nach einer Bleibe für ihren Hufeisenträger, bevor sie sich für sich selbst nach einer Wohnung umsähen. 553 Euro monatlich kostet eine Box im Westend.
Kinder und Jugendliche, deren Eltern sich kein eigens Pferd leisten können, bietet der Kinder- und Jugendreitverein Zehlendorf die Möglichkeit Reiten und Gespann fahren zu lernen. Wenige Minuten von der S-Bahnstation Zehlendorf entfernt gibt es hier 120 Pferde und Ponys in Koppelhaltung. Nur kranke Pferde kommen hier in eine Box. Auf einer extra Koppel werden altersschwache Pferde gehalten.
Reiten, Ausmisten und Pferdestriegeln ist hier fast ausschließlich Mädchendomäne. „Unter unseren 400 Mitgliedern sind kaum Jungs“, sagt Glinda Spreen, Vorsitzende des Vereins: „Und häufig habe ich auch das Gefühl, dass viele der kleinen Jungs nur deswegen zum Reiten kommen, weil ihre Mütter das gerne hätten.“ Spreen lacht.
Es reiten mehr Frauen als Männer
Auch in der Studentenreitergruppe Berlin gibt es deutlich weniger Reiter, als Reiterinnen. Alle zwei Wochen treffen sich die Studenten mit Huftier-Vorliebe in der Bar „Oase“, nahe der Friedrichstraße, um Turniere und Reiterpartys zu planen. Von 15 erschienen Mitgliedern – unter anderem Tiermedizin, Lehramt und Logistik-Studierende – sind drei Männer. Einer von ihnen hat noch nie auf einem Pferd gesessen. Er fühlt sich aufgrund seiner Tätigkeit als Bierbrauer dem Pferd zugetan.
„Was den Breitensport angeht, dominieren ganz klar die Frauen“, sagt Fabian Pagenhardt: „Beim Spitzensport hingegen sind mehr Männer vertreten.“ Von den 4950 Berliner Mitgliedern des Landesverbandes für Reitsport sind nur 665 Männer. Die Anzahl der Frauen ist über die Jahre seit 1990 mit kleineren Schwankungen fast stabil geblieben. Der Mitgliederschwund ist am deutlichsten bei den Männern festzustellen.
Landesverband-Geschäftsführer Peter Fröhlich glaubt, dass es für den Reiterstandort Berlin hilfreich wäre, wenn es wieder ein internationales Reitturnier in der Stadt geben würde: „Das könnte wiederum bewirken, dass sich wieder mehr Berliner Reiter auf der Ebene des Sportes mit ihrer Stadt identifizieren“, sagt er. Vielleicht würde ein Berliner Link zum internationalen Pferde-Spitzensport auch wieder mehr Berliner Männer auf den Pferderücken locken. Denn die, so scheint es, steigen am liebsten dann in den Sattel, wenn es einen Pokal zu holen gibt.
Glinda Spreen, 54, Reitvereinsvorsitzende aus Zehlendorf
Wenn Glinda Spreen von ihrem Leben erzählt, klingt das immer ein klein wenig wie eine Pferde-Abenteuer-Geschichte für Wendy-Leserinnen. Die Tochter eines Ur-Amerikaners, dessen Eltern Pferde züchteten, hat ihr erstes Reitponyfohlen auf Bornholm von ihrer Mutter geschenkt bekommen.
„Als ich das Fohlen zum ersten Mal sah, stand sie auf einem windigen Hügel, die Nüstern gegen den Wind und unter ihr klatschte das Meer gegen die Steilküste“, erinnert sich Glinda Spreen. „Sie konnte da stehen und dem Wetter trotzten, aber sie hätte auch auf der Hinterhand umdrehen können, und mit dem Wind um die Wette laufen können.“ Die alleinstehende Spreen bewundert Pferde. „Sie sind für mich die Repräsentanz von Kraft und Freiheit“, sagt sie. AlsSpreen 1974 ihr erstes Pony bekam, wurden die Kinder in der Zehlendorfer Nachbarschaft neidisch. Da Klein-Glinda ihr Pony aber nicht teilen mochte, kaufte ihre Mutter weitere Ponys und gründete kurzerhand „Spreens Ponyreitschule“.
„Wir hatten damals eine Laube, in der meine Mutter für die Reitkinder gekocht hat, und in den Ferien sind wir gemeinsam mit den Pferden an die Ostsee auf einen Bauernhof gefahren.“ Spreen zeichnet eine Bullerbü-Kindheit, mit Reitkindern, die wie selbstverständlich zur ihrer Mutter nach Hause gekommen sind und die die Hof eigenen Shetland-Ponys zu sich nach Hause entführt hätten, um sie auf die elterliche Wohnzimmergarnitur zu setzen.
Nach der Schule hat Spree in England und der Schweiz Schauspiel studiert. Aber egal in welchem Land, „was mit Pferden“ habe sie immer nebenbei gemacht. In England bewegte sie den Hengst eines Bankiers, in der Schweiz bildetet sie ein Therapiepferd aus. In den Achtzigern entschloss sich Glinda Spreen schließlich, sich wieder ganz dem Pferd zu widmen. Sie gründete den Kinder- und Jugendreitverein Zehlendorf. 120 Pferde und Ponys besitzt sie inzwischen. Es könnten durchaus noch mehr werden.
Ivonne Sander, 22, Lichtenberg, Internationale BWL Studentin
Man sitzt auf einem Pferd, in einem Sattel und gibt dem Tier mittels Fuß, Bein und Gewichtsverlagerung Hinweise darüber, wie es sich Verhalten soll. Das gilt überall. Dennoch: Reiten in Berlin, gestaltet sich ganz anders, als auf dem Land, findet die Lichtenberger Studentin Studen Ivonne Sander.
„Ich komme aus Ströhen einem niedersächsischen Dorf des Landkreis Diebholz. Wir hatten einen großen Bauernhof zuhause. Schon mit neun Jahren hatten mein Bruder und ich unser erstes eigenes Pony“, sagt Sander, „Als ich dann für mein Studium nach Berlin gezogen bin, war das schon eine große Umstellung.“ Die Ställe sind teurer. Die Turnier, an denen sie teilnehmen wollen würde, weiter weg. Und wenn sie nach Vorlesungsende noch ihr Pflegepferd sehen möchte, muss sie rund zwei Stunden fahren.
Das Tier, dass sie derzeit reitet, steht auf dem Lusienhof in Ketzin. Ein Westfale, Adi Barbar heißt er, ein Springpferd das bis zu Klasse L gegangen ist. In Ketzin trainiert Sander nun mit einem ehemaligen DDR-Landesmeister. „Ich versuche trotz der Entfernung jeden Tag zu Adi Barbar rauszufahren“, sagt Sander. Der Umgang mit Pferden sagt sie, frische sie jeden Tag wieder auf. „Das Reiten bringt mich auf neue Gedanken und nimmt mit den Unistress von den Schultern“, sagt Sander: „Dafür nehme ich den weiten Weg, dann doch immer wieder gerne in Kauf.“
Michael Konzag, 57, aus Westend, Berufsreiter und Trainer
„Mein Bruder ist früher heimlich geritten“, sagt Michael Konzag und legt seine Lederhandschuhe vor sich auf dem Tisch im Reitcasino. Sein Vater, ein Ingenieur aus Frohnau, habe eigentlich andere Pläne für seine Söhne gehabt. Aber als er seinen Ältesten beim heimlichen Reiten mit dem Großvater - einem ehemaligen Militärreiter - erwischt habe, habe er gesagt: „Wenn du das unbedingt willst, dann musst du das jetzt auch richtig machen.“ Umgehend bekam der ältere Bruder ein Pferd und intensiven Reitunterricht.
Der jüngere Bruder zog bald nach. „Wir können uns glücklich schätzen, dass unsere Eltern uns diesen schönen Sport damals finanzieren konnten“, sagt der Trainer im Lacoste Pullover. An sein erstes Turnier Ende der Sechsziger und die schweißnassen Hände davor, erinnert er sich heute noch. „Das war ein Reiterwettbewerb auf dem Poloplatz“, sagt Konzag: „Ich bin damals Vierter geworden. Auch wenn das vielleicht albern klingt, aber darüber bin ich jetzt noch stolz.“
Heute ist Konzag Berliner Landestrainer für Dressur. Sein ganzes Leben lang, sagt er, hab er nie mit etwas anderem Geld verdient, als mit dem Reiten. „Meine größten Erfolge sind aber meiner Schüler“, sagt Konzag nicht ohne Pathos: „Denn jeder Sieg, egal in welcher Klasse, ist ein Spiegel der Ausbildung.“ Sein ganz persönlicher, größter Erfolg ist sein Sohn. Anders als sein Onkel musste dieser nicht heimlich mit dem Reiten beginnen. Im Gegenteil, er wurde vom Vater trainiert.
„Mein Sohn, Bastian Konzag, wurde Vize-Europameister in der Junior Mannschaftsdressur“, sagt der Trainer und fügt dann noch hinzu: „Das ist doch auch etwas besonders am Pferdesport. Mein Sohn und ich können den Sport, in dem wir beide so erfolgreich sind, gemeinsam betreiben. Im Fußball wäre das auf Grund des Altersunterschiedes nicht mehr möglich.“ Er nimmt seine Lederhandschuhe vom Tisch, zieht sie einmal durch seine geschlossene Hand und lacht dann. „Josef Neckermann ist schließlich auch noch mit 60 eine Olympiade geritten.“
Gloria Riènzner, 71, Pferde-Pflegerin und -Flüsterin, Zehlendorf
Seit zehn Jahren geht die Rentnerin Riènzner jeden Tag auf eine Koppel, um sich mit pensionierten Schul- und Sportpferden zu treffen. Sie pflegt sie. Sie geht mit ihnen spazieren und sie kommuniziert mit ihnen auch. „Das ist kein Ehrenamt für mich. Ich mache das aus Liebe“, lässt sich die Dame im Bauwagen auf dem Reiterhof in Zehlendorf zitieren. Besonders mit Berlins mutmaßlich ältestem Pony - dem in diesem Jahr mit 50 Lenzen verstorbenen Shetland Pony Madame Nou – hat sich die alleinlebende Riénzner verbunden gefühlt.
„Mit ihr konnte ich sprechen“, sagt sie. Entdeckt habe sie diese Fähigkeit, als eine Tierärztin, auf den Zehlendorfer Hof gekommen sei, um sich mit Pferdepatient „Montag“ zu unterhalten. „Aber Nou hat sich in den Vordergrund gedrängt, sie wollte sich mitteilen.“ Ich bin Nou. Ich bin schon sehr alt, aber ich habe ganz tolle Zeiten erlebt, habe das Pony die Rentnerin wissen lassen. „Und dann hat sie noch etwas gesagt, dass mich sehr berührt hat: In meinem Herzen habe ich einen Blumenwiese. Und: Hätte ich die nicht, dann wäre ich nicht mehr hier.“
Es ist einen Moment still im Bauwagen. Der einäugige Wallach Ludwig umrundet den zur Reiterklause umfunktionierten Anhänger, bereits zum dritten Mal, kurz taucht sein brauner Bauch vor dem Bauwagenfenster auf.
„Das ist ein ganz Lieber“, sagt Gloria Riènzner. Das Tier sei ein ehemaliges Sportpferd, als es das rechte Auge verlor, wollte der Besitzer es schlachten lassen. Alte und ausrangierte Pferde sind für Riènzner um Lebensinhalt geworden. Bevor die 71-Jährige in Rente ging, hat sie in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales gearbeitet, war für die Jobvermittlung an Behinderte zuständig. 2009 gründete sie nun gemeinsam mit Gleichgesinnten den „Verein für tierischen Ruhestand“. „Pferde sind keine Sportgeräte“, bekräftigt Riènzner ihr Ansinnsen: „Es sind das Lebewesen, die einem ganz viel geben können. Ruhe und auch Liebe.“
Kasia Weyers, 14, Schülerin aus Schöneberg
Lange blonde Haare, schmutzige Stiefel, in ihrer Hand hält sie ein aus Perlen geknüpftes Freundschaftsband. Seit sie sieben Jahre alt ist, ist Kasia Weyers von Pferden fasziniert: „Bevor ich geritten bin, habe ich mir schon immer Fotos von Pferden angeguckt, weil ich sie so schön und stark aussehend finde.“ Ihre Eltern meldeten sie zum Schnupperreiten im Kinder- und Jugendreitverein Zehlendorf an: „Danach wusste ich, das möchte ich regelmäßig machen.“
Seit drei Jahren geht sie nun jede Woche zum Dressur-Reitunterricht. „Mein Lieblingspony heißt Simsalabim. Mit dem bin ich dieses Jahr auch zum ersten Mal ein Turnier geritten. Beim Pony-Besten-Turnier im Olympia Stadion haben wir beim Reiterwettbewerb den ersten Platz gemacht.“ Am E-Dressur-Turnier hat das Sandwich aus Schulpferd und Schülerin auch teilgenommen, wurde aber nicht platziert.
Sportliche Erfolge sind für Kasia aber auch nichts das Wichtigste. Am spannendsten findet sie die Beziehung von Pony und Reiter. „Zwischen Simsalabim und mir ist mittlerweile so eine Art Freundschaft entstanden“, sagt sie: „Ich reite ihn ja nicht nur, sondern ich kümmere mich auch und pflege ihn.“ Aber nicht nur zu Pferden, sondern auch zu den anderen Mädchen im Stall hat Kasia Freundschaften geknüpft. Auch wenn das Band in ihrer Hand, nicht selbst gemacht ist, sondern ein bestelltes Geschenk von ihrer Mama ist.
Und Jungs? „Die gibt es hier auch, aber weniger als Mädchen. Vielleicht drei, oder so?“, Kasia blinzelt gegen die Herbstsonne: „Ich glaube Reiten ist einfach nicht so ein Jungssport.“