Wenn am Sonntag die Käufer kommen, wird Herr Mitschke nicht da sein. Sie werden durch die Wohnung laufen, in der er 40 Jahre lang gewohnt hat. Ein freundlicher junger Mann mit einem Namensschild wird die Vorzüge der Lage preisen, eine Frau wird überlegen, welcher Raum das Kinderzimmer werden soll, ein Mann wird fachmännisch die Wand zum Vorderhaus abklopfen, um zu prüfen, wo man da am besten einen Durchbruch macht.
Niemand wird fragen, wer in diesen zwei Zimmern sein Leben gelebt hat. Ob er den Blick in den Hof mochte, ob er gern in der Küche saß, ob er sich auf den Nachmittag gefreut hat, weil dann die Sonne auf seinen Balkon scheint.
Vor allem aber wird niemand fragen, warum Herr Mitschke, der eigentlich immer zu Hause war, nicht da ist.
Sonnabend und Sonntag sind „Tage der offenen Tür“
Die Mieter im Haus der Linienstraße 118, die, die noch da sind, erwarten das Wochenende mit Sorge. Der Makler hatte es ihnen vor zwei Wochen mitgeteilt. Sonnabend und Sonntag sind „Tage der offenen Tür“. Potenzielle Käufer werden treppauf und treppab laufen, sie werden alles anfassen und anschauen und prüfen, ob sich das Zuhause der Mieter als Anlageobjekt lohnt. Die Wohnungen, die schon frei sind, werden an dem Tag offenstehen. Wie die von Herrn Mitschke. Da aber auch die vermieteten Wohnungen verkauft werden sollen, hat der Makler den verbliebenen Mietern einen kleinen Anreiz geboten.
Schließlich wohnt hier nicht das große Geld. Noch nicht. Wer seine Wohnung also zur Begutachtung öffnet, auch wenn er es aufgrund der kurzfristigen Benachrichtigung nicht muss, bekommt 200 Euro. Na? Wer möchte? Das sei ein einmaliges Angebot, das würde nicht wiederholt, heißt es in dem Schreiben. Künftige Besichtigungen würden dann fristgerecht nach den rechtlichen Bestimmungen durchgeführt. „200 Euro?“, sagen die Mieter und lachen. „Wir sind doch hier nicht im Zoo. Wir lassen keinen rein, auch nicht für 2000 Euro.“
Mieter sind eingeschüchtert
Dabei sind die Mieter im Hause Linienstraße 118 gar nicht so. Wenn man sich länger mit ihnen unterhält, sind sie sogar sehr offen. Hätte ein ebenso offener Mensch ihr Zuhause gekauft, und hätte der gefragt, ob er sie mal besuchen dürfe, hätten die Mieter wahrscheinlich keine Scherze darüber gemacht, wie viel Eintritt sie fordern könnten. Aber es gibt eine Geschichte zwischen den Mietern in der Linienstraße 118 und den wechselnden Eigentümern des Hauses. Wegen dieser Geschichte empfinden sie das Angebot, für 200 Euro ihre Wohnungen zu öffnen, als Hohn. Und wegen dieser Geschichte sind die Mieter so eingeschüchtert, dass sie auf gar keinen Fall in der Öffentlichkeit erkennbar auftreten wollen. Keine Namen, keine Fotos. „Wir wollen Frieden“, sagen sie. Sie wollen nicht, dass die neuen Eigentümer sich jemand einzelnen rauspicken. Aber sie haben Sorge, dass es so kommen könnte. Deswegen haben sie sich solidarisiert.
Das Haus Nummer 118 gibt es seit 1910. Die Linienstraße gehört zum Scheunenviertel, jüdische Familien haben die Gegend aufgebaut und sie geprägt. Die Straße entstand Anfang des 18. Jahrhunderts, da war sie noch eine Grenzlinie. Fontane ließ eine seiner Figuren, einen Emporkömmling, hier wohnen. Auch Franz Biberkopf war hier einmal zu Hause. Keine reiche Gegend.
Kaiserin war eine der ersten Bewohnerinnen
Als die Nazis an die Macht kamen, wurden unzählige Eigentümer dieser Häuser enteignet. In diese Zeit hinein wurde Herr Mitschke geboren. 1940 im Erdgeschoss des Hinterhauses, nur eine Hebamme war dabei. Seine Mutter soll ein strenges Regiment mit ihrem Sohn geführt haben, das wissen die heutigen Mieter noch von der Kaiserin, dem Fräulein Kaiser aus dem vierten Stock im Vorderhaus. Die Kaiserin war eine der ersten Bewohnerinnen Linienstraße Nr 118, sie kannte jeden. Sie lebt längst nicht mehr. Aber in einem Haus, in dem sich die Mieter gut verstehen, leben auch die Vormieter und ihre Geschichten weiter.
Nach dem Krieg, als die Sozialisten den Osten Berlins übernommen hatten, ging die 118 in den Besitz der Kommunalen Wohnungsverwaltungen über. Im Vorderhaus zogen junge Familien ein. Mitte galt als Problemkiez, die Mieten waren billig. Wer es sich leisten konnte, wollte damals lieber im modernen Marzahn leben.
1997 ging das Haus an Erbengemeinschaft
Dann kam die Wende. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Nachkommen der ehemaligen Eigentümer sich melden würden. 1997 ging die Nummer 118 an eine Erbengemeinschaft. Einer davon kaufte es. Er habe noch nie etwas geerbt, sagte er den Mietern, deswegen wolle er das Haus so gerne haben. Außerdem war es günstig. Umgerechnet 700.000 Euro soll er bezahlt haben, so erzählen es die Mieter. Es gab mehrere private Kontakte zur Familie, es ist gut möglich, dass die Mieter den Preis kennen. Natürlich legen sie Wert darauf, dass sie die Zahl nur vom Hörensagen kennen. Wie gesagt, sie sind verängstigt.
Die neue Eigentümerfamilie schien nett. Kaum hatte sie das Haus gekauft, da feierte sie ein Begrüßungsfest im Haus. Der Mann soll sehr beeindruckt davon gewesen sein, wie viele gebildete Menschen in seinem Haus wohnten. Er wollte, dass sie sich noch besser kennenlernten. Er besuchte die Menschen, die jetzt seine Mieter waren, in ihren Wohnungen und überredete sie, neue Mietverträge abzuschließen. Die Mieter vertrauten dem neuen Eigentümer. Er sicherte ihnen faire Behandlung zu, und sie unterschrieben.
Kreative und Lebenskünstler
Das Eigentümerpaar hat sieben längst erwachsene Kinder, einer der Söhne übernahm die Hausverwaltung. Er bezog ein Zimmer in einer WG und kümmerte sich um das Haus. Neue Mieter, so heißt es, wurden sehr lange von ihm befragt, ob sie auch in die Gemeinschaft passten. Der Sohn des Eigentümerpaares sei Hausbesetzer in Hamburg gewesen, erzählen die Mieter. Er hatte einen Hang zum Sozialen. Und so mischte es sich zurecht in der Linienstraße, wie überall anders auch im Osten der Stadt. Menschen, die hier den Krieg und Menschen, die hier die Wende erlebten, wohnten jetzt Tür an Tür mit Kreativen und Lebenskünstlern, die von überall her nach Berlin zogen. Gemeinsam bepflanzten sie den Hof und feierten Sommerfeste. Die heutigen Mieter der Linienstraße 118 sind alte und neue Berliner, sie kommen aus den USA, aus der Türkei, aus Dänemark, Holland, Italien und Israel. Der jüngste Bewohner ist vier Monate alt, der älteste hat Enkelkinder.
Im Herbst 2011 aber änderte sich das Leben in der Linienstraße 118. Herr Mitschke bemerkte es als Erster. „Männer in Anzügen“, so erzählte er es den anderen, seien ins Haus gekommen. Sie hätten sich alles ganz genau angeschaut und Notizen gemacht. Was das bedeuten solle, habe Herr Mitschke die anderen Mieter gefragt.
Herr Mitschke blieb immer Herr Mitschke
„Herr Mitschke war ein zurückhaltender Mensch“, sagen die Mieter, ein introvertierter. Die anderen duzten sich längst untereinander, aber Herr Mitschke blieb immer Herr Mitschke, auch wenn er die Feste mitfeierte und auch wenn jeder ihn kannte, weil er die Pakete für die anderen annahm. Wie gesagt, er war eigentlich immer zu Hause. Nur am Sonntagnachmittag ging er in die Kneipe um die Ecke. In der Bärenschänke in der Friedrichstraße trank er ein Bier und rauchte eine Zigarre, zum Abendessen war er wieder da. Unter der Woche arbeitete Herr Mitschke im Palast der Republik am Postschalter. Wenn man ihn im Hausflur traf und ihn fragte, wie es ihm denn so gehe, dann lächelte er etwas mürrisch und antwortete: „Muss, muss.“
2008 wurde der Palast der Republik abgerissen, da war Herr Mitschke längst in Rente. Seitdem traf man ihn immer morgens um elf Uhr am Briefkasten. Dann nämlich kam die Postfrau. Herr Mitschke wollte gerne sehen, was sie brachte, denn er war ein leidenschaftlicher Briefmarkensammler. Ein Philatelist, sagen die Mieter mit Respekt in der Stimme. Herr Mitschke war stellvertretender Vorsitzender im Freundeskreis „Sammler der PIN AG“. Ganze Kartons voller Briefmarkenalben hatte er in seiner Wohnung. Und er hielt auch gern ein Schwätzchen mit der Postfrau.
Herr Mitschke ist ein einziges Mal in seinem Leben umgezogen. Vom Erdgeschoss in den ersten Stock des Hinterhauses, von 61 auf 62 Quadratmeter mit Balkon. Das war in den Siebzigern, kurz nachdem seine Mutter verstorben war. Als er im Herbst 2011 die Männer in den Anzügen bemerkte, wurde er nervös. Er war 71 Jahre alt, er wollte in der Nummer 118 wohnen bleiben. Jetzt hatte er Angst, dass er vertrieben würde. In dem Mietermagazin, das er abonnierte, hatte er eine Geschichte gelesen von einer Frau, die im Auftrag von Eigentümern Häuser „entmietet“.
Unvermietet verkauft sich teurer
Auch die anderen Mieter wurden unruhig. Das Eigentümerehepaar hatte vor Kurzem erst die Fassade machen lassen, und auch das Treppenhaus war frisch renoviert. Der Baulärm war gerade erst verhallt. Verkauft jemand ein Haus, in das er investiert hat? Andererseits: Die Nummer 118 wäre nicht das erste Haus in der Gegend, das entmietet und in Einzelteilen verkauft wird. Es wäre eines der letzten. Unvermietet verkaufen sich Wohnungen deutlich besser, vor allem auch teurer. Deswegen müssen die mit den alten Verträgen raus. Momentan zahlen die Mieter in der Linienstraße 118 durchschnittlich sechs Euro pro Quadratmeter. Die Gegend ist mit elf Euro Spitzenreiter im Berliner Mietspiegel.
Die Mieter sprachen mit dem Eigentümerehepaar. Sie fragten, ob das Haus verkauft werden würde. Die Eigentümer winkten ab, nein, auf keinen Fall. So erzählen es die Mieter. Im November 2011 schrieb das Eigentümerehepaar an die Mieter. Das Haus sei nun doch verkauft worden, aber der neue Eigentümer habe ihnen zugesichert, er wolle das Grundstück in Mietverwaltung behalten. Sie bedauerten, dass man sich trennen müsse. Es heißt, das Eigentümerehepaar habe das Haus für 2,4 Millionen Euro verkauft, umgerechnet 1000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche.
„Der Wiener“ will das Haus frei haben
Im Mai 2012 kam der neue Eigentümer. Ein „nassforscher Wirbelwind“, sagen die Mieter. Da er in der österreichischen Hauptstadt lebte, nannten sie ihn bald „den Wiener“, wenn sie Geschichten über ihn austauschten. Der Wiener habe den Mietern unmissverständlich klargemacht, dass er das Haus frei haben wolle. In seinen Briefen schreibt er „S.g. Hr“ statt „Sehr geehrter Herr“ und „dzt.“ statt derzeit und „u.a“ statt unter anderem. Der Wiener wollte keine Zeit verlieren. „Wir wissen, wie man entmietet“, soll er gesagt haben. Es war von Zentralheizungen und verbreiterten Balkonen und einem Fahrstuhl die Rede. Einige, die für ihn arbeiteten, hätten den Mietern erklärt: „Wenn wir hier erst mal fertig sind, können sie sich die Wohnung bestimmt nicht mehr leisten.“
Der neue Eigentümer flog zwischen Wien und Tegel hin und her. Er bot Ablösesummen, wenn die Mieter sofort ausziehen würden. Er fing klein an, bei 100 Euro pro Quadratmeter, aber als er auf Widerstand stieß, steigerte er sich. Er übte Druck aus, er schrieb Mails, rief auf dem Handy und dem Festnetz an, schrieb wieder Mails, und manche zogen aus. Andere boten ihm an, dass sie die Wohnung selbst kaufen würden. Einige der Mieter wohnten seit Jahrzehnten in dem Haus, sie hatten in ihre Wohnungen investiert. Einer hatte gerade für 8000 Euro Bad und Küche saniert. Sie wollten wohnen bleiben, und sie wollten zusammenbleiben. „Dass das Haus in so einem guten Zustand ist, das hat der Eigentümer uns zu verdanken. Wir haben hier teilweise über Jahrzehnte unser Geld reingesteckt“, sagen die Mieter.
„Die kriegen mich hier nicht raus“
Manche der Mieter lassen sich in Mietervereinen beraten, andere haben Freunde, die Anwälte sind. Die erklärten ihnen den Artikel 14 des Grundgesetzes „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Der Wiener könne nicht einfach machen, was er wolle. Sie sagten ihnen, nach Paragraf 577 BGB hätten Mieter ein Vorkaufsrecht. Die Mieter fragten den Wiener. Er bot ihnen Summen von um die 3000 Euro pro Quadratmeter an, wenn sie ihre Wohnung kaufen wollten. Dreimal soviel, wie er bezahlt haben soll.
Herr Mitschke im ersten Stock Hinterhaus bekam ebenfalls Besuch von dem Wiener. Als der gegangen war, schauten die Mieter nach ihm. Herr Mitschke war immer ruhig gewesen, das war jetzt anders. „Der hatte richtig Drehzahl“, erzählen die Mieter. „Die kriegen mich hier nicht raus“, habe er laut durchs Treppenhaus gerufen.
Aber jemand, der im Auftrag des Wieners unterwegs war, habe längst rumerzählt, dass man den Herrn Mitschke ohnehin rausklagen würde. So runtergekommen wie seine Wohnung aussähe, sei das ein Leichtes. „Aufräumen war nicht sein Ding“, sagen die Mieter.
Auch den anderen habe der Wiener und seine Verwaltung versichert, man würde auch sie aus ihrem Zuhause klagen können. Wenn Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt werden, hatten Mieter damals sieben Jahre Kündigungsschutz. Die Frist könnte aber ganz leicht unterschritten werden, habe der Wiener gesagt.
Mieter schließen sich zusammen
Die Schreiben, die zwischen den neuen Eigentümern, der neuen Hausverwaltung und den Mietern hin und her gehen, fangen oft mit einer Entschuldigung an, dass die Mieter so lange auf eine Antwort warten mussten. Eine Verzögerungstaktik, sagen die Mieter. Dem einen habe der Wiener dieses gesagt, dem anderen das. „Divide et impera“, teile und herrsche, sagen die Mieter. Aber da wollten sie nicht mitmachen.
Ihr Kontakt wurde enger, die gemeinsamen Treffen häufiger. Man saß gemeinsam in einem der Wohnzimmer und versuchte sich gemeinsam zu wehren. Im Juni 2012 baten sie die Alteigentümer, das Haus zurückzukaufen, oder wenigstens darauf zu achten, dass Zusage eingehalten wird, nach der das Haus in Mietsverwaltung bleiben sollte. Die Alteigentümer benannten Zeugen, die aussagen könnten, dass so eine Zusage getroffen wurde. Von dem Immobilienmakler, der damals beteiligt war, kursiert ein Video im Netz. Dort erklärt er, „wie sich das Gentrifizierungsthema rechnet“. Wie man ohne etwas an einer Wohnung „zu machen“, durch Neuvermietung „Profit macht“. Zu der Zusage der Alteigentümer wollte er auf Nachfrage allerdings nichts sagen.
Mieter suchen schließlich Hilfe bei der Stadt
„Die Alteigentümer haben uns im Stich gelassen“, sagen die Mieter. Die Zusage darüber, die Mieter wohnen zu lassen, hätte schriftlich erfolgen müssen. War sie aber nicht. Das habe der Alteigentümer gewusst. Er sei Funktionär bei der Wohnbaugesellschaft „Neue Heimat“ gewesen. Ein Profi, sagen die Mieter. Der Alteigentümer sagt nichts.
Die Mieter suchten Hilfe bei der Stadt. Sie schrieben den Regierenden Bürgermeister an und den Senator für Stadtentwicklung und Umwelt. Aus den Büros kamen beschwichtigende Antworten. Kauf bricht Miete nicht, sage das Gesetz. Und sieben Jahre Kündigungsschutz seien doch sehr gut. Carsten Spallek, CDU, der Bezirksstadtrat, und Frank Bertermann, Grüne, Vorsitzender des Stadtentwicklungsausschusses in Mitte, informierten etwas ausführlicher über das Baurecht. Und so erfuhren die Mieter, dass der Wiener gar nicht die rechtlichen Voraussetzungen bei der Baubehörde dafür geschaffen hätte, ihnen ihre Wohnungen zu verkaufen. „Er hat also geblufft, um Zeit zu gewinnen. Er wollte immer nur spekulieren mit dem Haus“, sagen die Mieter.
Ende 2012 waren sieben Mietparteien ausgezogen
Ende 2012 endete der Druck des Wieners. Sieben Mietparteien waren ausgezogen, einige von ihnen für Prämien um die 350 Euro pro Quadratmeter. 13 Mietparteien aber waren noch da. Und auch wenn der „Wirbelwind“ vielleicht aufgegeben hatte, es gab jetzt einen neuen Eigentümer. Der Wiener hatte das Haus verkauft. Für 2300 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, so wollen es die Mieter erfahren haben.
Herr Mitschke war Ende 2012 schon nicht mehr da. Er war zu allen Treffen der Mieter gekommen, auf einmal fehlte er. Er kam auch nicht mehr um elf Uhr morgens zum Briefkasten. Er hatte sich zu sehr aufgeregt über den Verkauf, sagen die Mieter. Sie riefen im nächsten Krankenhaus an. Da fanden sie ihn. Er war auf dem Weg zum Arzt zusammengebrochen. Woran er litt, das dürfen nur Angehörige wissen, aber Herr Mitschke hatte ja gar keine Angehörigen mehr. Die Mieter besuchten ihn, er erkannte sie, er freute sich. Aber reden konnte Herr Mitschke nicht mehr.
Im Januar kamen die neuen Eigentümer mit neuen Gesprächen. Die Jachimowicz Group, sagen die Mieter, übte keinen neuen Druck aus. Aber auch sie wollten das Haus in Eigentumswohnungen umwandeln und diese einzeln verkaufen.
Neun Wohnungen stehen seit anderthalb Jahren leer
Mitte April wurde den Mietern mitgeteilt, dass das renovierte Treppenhaus überarbeitet werden solle und der Hof gleich mit. Die Bepflanzung wurde zerstört, Bäume wurden gefällt, die Bauarbeiter übernahmen das Haus. Auch die Fassade wurde neu gemacht. Die dritte Fassade in drei Jahren, inklusive Baugerüst. „Das sieht jetzt aus wie eine Puppenstube“, sagen die Mieter. „Im Treppenhaus hängen Lampen, die hätte man früher in einen Kuhstall gehängt. Das passt alles gar nicht zum Haus.“ Die alten Klingelknöpfe sind verschwunden, Baustaub dringt noch immer in die Wohnungen, Bodenbeläge werden rausgerissen. Dem Putzteam wurde gekündigt. Es ist unordentlich im Haus. Neun Wohnungen stehen seit über 18 Monaten leer.
Dies ist die Geschichte von Herrn Mitschke und den Mietern im Haus Linienstraße Nr. 118. Es ist eine Geschichte von spekulierenden Eigentümern und bedrängten Mietern. Sie hätte auch die Geschichte der Jachimowicz-Brüder sein können. Ein Betriebswirt und ein Jurist, die in die Zukunft investieren. Zwei Unternehmer, die etwas bewegen wollen in Berlin. Die das Luxussegment anlocken, das dieser Stadt fehlt, und die sich statt dessen mit renitenten Mietern rumschlagen müssen. Die Vorwürfe ertragen müssen, dass Bauarbeiten verschleppt würden und die ihren Versuch, ihr Eigentum aufzuwerten, als bloße Schikane Mietern gegenüber ausgelegt sehen. Aber sie ist es nicht. Denn die „Jachimowicz Group“ möchte keine Interviews in ihrer Sache geben. Es bestehe kein Interesse, so beantworten sie die Anfrage. Den Mietern haben sie geschrieben, dass diese bitte keine gemeinsamen Schreiben mehr an sie schicken sollten. Das könne das Gegenteil der gewünschten Reaktion hervorrufen.
Angespanntes Verhältnis zwischen Mietern und Bauarbeitern
Drei Tage vor den angekündigten „Tagen der offenen Tür“ sind Treppenhaus und Hof in der Linienstraße voller Bauarbeiter und Handwerker. Sie betrachten den Besucher misstrauisch. Das Verhältnis zu den Mietern ist schwierig. Das ist verständlich. Es gibt ein Foto, das einen Bauarbeiter beim Urinieren im Hof zeigt. Das führt für gewöhnlich nicht zu Freundschaften. Im Flur hängt eine Warnung, dass das Treppenhaus zwischen 9 und 16 Uhr nicht begehbar sein werde. Jemand hat handschriftlich „zeitweise“ hinzugefügt. Auf einem Zettel steht, dass die Klingelanlage abgestellt wurde und Besucher bitte anrufen sollen.
Die Mieter würden dem Besuch gerne einen Kaffee anbieten, aber das können sie nicht. Sie mailen sich jeden Tag über das, was im Haus passiert. An diesem Tag kam um 8.06 Uhr morgens die Nachricht. „Hallo zusammen, bei uns wurde das Wasser abgestellt. Wisst ihr was davon?“ Um 8.12 Uhr: „Habt ihr die Ankündigung gesehen?“ Es wird gesucht. Um 8.40 Uhr hat jemand den Zettel gefunden: „Er war auf der Rückseite der Briefkästen.“ Ein anderer um 9.06 Uhr: „Die Zettel hängen erst seit heute Morgen da. Wir sollten die Hausverwaltung verständigen.“ Um 13.18 Uhr kommt die Aufklärung: „Die Hausverwaltung sagt, die Zettel hätten schon lange da gehangen. Wir sollten halt die Ankündigungen lesen.“ Um 17 Uhr läuft das Wasser wieder. Am nächsten Tag wird es wieder abgestellt. Diesmal sind alle vorgewarnt.
Antwort von Hartmut Bade
„Wir sind keine Kommunisten und keine Hausbesetzer“, sagen die Mieter. „Wir verstehen, dass Eigentümer ihr Eigentum verkaufen dürfen.“ Sie verstehen aber nicht, wie der Preis eines Hauses sich innerhalb von drei Jahren fast vervierfachen kann, ohne dass in viel mehr als Schönheitsarbeiten investiert wurde. Es gebe weder ökologisch sinnvolle Sanierungsmaßnahmen noch nennenswerte technische Instandsetzungen. Die einzige Maßnahme bisher: In den Speisekammern wurden die nicht isolierverglasten Oberlichter gegen isolierverglaste ersetzt. Die Mieter fragen sich, ob die Politik auch wirklich alles tut, um die Bürger vor Spekulation zu schützen.
Auf der Straße vor dem Haus hängen große Porträtaufnahmen von den Politikern, die am 22. September gewählt werden wollen. Das Thema Mieten und Immobilienblase beherrscht momentan die Stadt. Werden sie etwas tun, für Menschen wie die Mieter in der Nummer 118? Was sagen die Direktkandidaten?
Der erste, der auf die Anfrage antwortet, ist der Kandidat der FDP, Hartmut Bade. Wenn die Mieter wirklich bedroht würden von Eigentümern oder Maklern, dann sei die Linienstraße 118 ein Fall für Anwälte. Für die Politik aber sehe er keinen Handlungsbedarf. „Eine Stadt lebt davon, dass sie in Bewegung ist“, sagt er. Das Problem steigender Mieten und utopischer Erwartung an den Verkauf von Eigentumswohnungen wolle die FDP auf anderem Wege lösen. „Wir wollen den Wohnungsbau befördern, dann entspannt sich auch der Mietmarkt.“ Auch der Kandidat der CDU, Philipp Lengsfeld, will sich vor allem für Neubau einsetzen. Seine Partei nehme die Sorgen der Mieter ernst, glaube aber, das deutsche Recht gewähre den Mietern schon weitreichende Schutzrechte. Das Problem sieht Lengsfeld eher bei den „Neubauverhinderern“ der Gegenparteien.
„Berlin ist Mieterstadt“
Die Linke zeigt großes Verständnis für die Mieter. „Wir sind alarmiert“, sagt ihr Kandidat Klaus Lederer. „Die enormen Mieten die in Alt-Mitte gezahlt werden, sind Anreize für Vermieter, Druck auf Altmieter auszuüben. Mit erlaubten und unerlaubten Mitteln.“ Das passe nicht zur Stadt. „Berlin ist eine Mieterstadt und wird es auf absehbare Zeit bleiben“, so Lederer. Die meisten Berliner hätten nicht die finanziellen Mittel, um sich Wohnungen zu kaufen. Deswegen fordere seine Partei eine Begrenzung von Mietsteigerungen bei Neuvermietungen, eine Neuauflage des Milieuschutzes, der Luxussanierungen untersagt, und eine Verordnung, die Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen beschränkt oder auch untersagt.
Die Direktkandidaten von den Grünen, der SPD und der Piratenpartei reagierten nicht auf die Anfrage.
Der Makler hat einen Werbefilm über die Linienstraße Nr. 118 drehen lassen. In dem Film sind viele Menschen zu sehen. Sie sitzen vor den Cafés auf der Straße, sie spielen Volleyball, sie liegen auf der Wiese im Park, sie stehen vor Kunstwerken in der Galerie, sie gehen ins Theater. Diese Menschen verkörpern das Lebensgefühl von Mitte, das, was die Lage so begehrt und teuer macht. Die Menschen, die im Haus Nummer 118 wohnen, zeigt der Film nicht. Dabei sehen die auch nicht anders aus.
Herr Mitschke ist im März 2013 verstorben. Eine Sozialarbeiterin hat seine Wohnung ausräumen lassen. Wo seine Briefmarkensammlung geblieben ist, wissen die Mieter nicht. Der erweiterte Kündigungsschutz für Mieter, deren Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt wurde, ist auf zehn Jahre hochgesetzt. Die verbliebenen Mieter haben also drei Jahre gewonnen. Herrn Mitschkes Wohnung soll jetzt mit der im Vorderhaus verbunden werden. Die Einheit wurde am Tag der offenen Tür für 3900 Euro den Quadratmeter angeboten.