„Ja, da isser! Ja, da isser, ja!“ Eine blonde Frau um die Vierzig freut sich. „Da isser ja“, sagt sie nochmal, ihr Lidstrich verläuft und aus ihren Backentaschen tönt ein Lachen, wie man es nur lachen kann, wenn man über einen längeren Zeitraum regelmäßig Tabakerzeugnisse inhaliert hat. „Ich bin extra aus der Schweiz angereist“, beteuert sie, und bevor wir diese Information richtig verarbeiten können, stehen wir auch schon im Blitzlichtgewitter einer neonpinken Hobbykamera. „Komm her“, sagt die Aufgeregte hinter dem Auslöser: „Lass dich umarmen!“
Meine Begleitung zögert. Der Aufgeregten rutscht die Hobbykamera an einem Bändchen die Elle hinunter. „Komm. Ich küss dich auch nicht“, verspricht sie, als sei das irgendwie beruhigend. Meine Begleitung beugt sich vor, die Dame aus der Schweiz umarmt ihn. „Du musst mich doch erkennen“, sagt sie jetzt etwas weniger aufgeregt, direkt an sein Ohr: „Ich leg doch immer Fotos bei.“ Meine Begleitung versucht es mit einem entschuldigenden Lachen. Die Aufgeregte stimmt mit ein. Dann aber wird ihr Ton vorwurfsvoll: „Ich bin Josies Brieffreundin.“ Meine Begleitung nickt. Besagte Josie ist eine Schildkröte, die glaubt, sie sei ein Geldautomat. „Josie bekommt wirklich viel Post“, sagte meine Begleitung dann. Besagte Josie ist seine Handpuppe.
Sascha Grammel ist 39 Jahre alt, in Charlottenburg geboren, in Hakenfelde aufgewachsen und solche Szenen gewohnt. Wenn man mit ihm durch seine aktuelle Heimat Spandau läuft, versetzt das den ein oder anderen Passanten in Wallungen. Sein Konterfrei lacht als Wandgemälde von einem Einkaufscenter in der Spandauer Wilhelmstraße. Der Bauchredner mit Wuschelfrisur ist hier bekannt.
Mal komisch, mal kitschig
Seine Puppen – mehrheitlich sprechende Tiere dazu zwei Außerirdische und ein sprechendes Lebensmittel – ebenso. Sein Programm ist mal komisch – Schildkröte glaubt Geldautomat zu sein, mal ausgesprochen kitschig – Schildkröte trägt Brautkleid und singt über Einsamkeit. Vor allem aber ist es ziemlich erfolgreich: Seine Shows sind meistens ausverkauft. Die DVD seiner letzten Tour erreichte Doppelplatin. 2011 wurde ihm der Deutsche Comedypreis verliehen.
Fünf Stunden vor Beginn seiner Show treffe ich Grammel an der Spandauer Freilichtbühne. „Normalerweise bin ich nicht so früh da. Aber ich war jetzt gerade zwei Wochen im Türkei-Urlaub, und davor hatte ich zwei Monate frei. Wir müssen heute alles noch mal proben, bevor es losgehen kann“, erklärt er. Ebenfalls fünf Stunden vor Showbeginn sind Groupies aus Baden-Baden da. Sie fahren dem Sohn eines Kürschners und einer Sekretärin häufiger hinterher.
Während die Havel rauscht und die Nachmittagssonne scheint, halten sie sich an ihren Geschenken – mit Grammels Namen bestickte Häkelware im Goldrahmen – fest. „Lass uns lieber hier vorne auf dem Weg bleiben“, sagt der Bauchredner mit Blick auf den Bühneneingang: „Wenn wir direkt vor der Bühne hergehen, haben wir keine Ruhe.“ Und so biegen der Komiker und die Reporterin auf einen Spazierweg durch das Spandauer Gebüsch ab, den sie in der nächsten Stunde immer und immer wieder im Kreis laufen werden.
Eltern fuhren ihn zu Auftritten
Mit neun Jahren bekam Sascha Grammel einen Magierkasten geschenkt und begann das Zaubern. „Da das bei meiner Familie und meinen Freunden gut angekommen ist, bin ich dann auch auf Kindergeburtstagen aufgetreten.“ 17 Mark und 57 Pfennige sei eine seiner ersten Gagen für eine Stunde Zaubern in Lichtenrade gewesen, erinnert er sich. Seine Eltern haben ihn damals zu den Auftritten gefahren. „Gemeinsam haben wir aus dem Fenster geguckt und nach Luftballons Aussicht gehalten“, sagt Grammel: „Die waren immer das sicherste Erkennungszeichen, dass wir die richtige Hausnummer gefunden hatten.“
Nach seinem Realschulabschluss hatte Grammel eigentlich Grafikdesigner oder „was mit Menschen“ lernen wollen. Bekam aber keine Stelle, stattdessen begann er eine Ausbildung zum Zahntechniker. Auf der Weihnachtsfeier des Labors tritt Grammel mit seinen Zauberkünsten auf und wird vom Chef belächelt. Aber Grammel glaubt an sich. Für die Zahntechnik hingegen fühlt er sich zu langsam und zu perfektionistisch veranlagt. 1997 kündigt er. Er will jetzt nur noch Zauberer sein.
„Ich bin damals auf Hochzeiten, Kindergeburtstagen und Firmenfeiern aufgetreten und habe 500 Mark pro Auftritt bekommen.“ Er schließt sich mit seinen Freunden Martin Sierp und Timothy Trust zu der Gruppe „Die Zauderer“ zusammen. Sie wollten wie David Copperfield sein, sagt Grammel. Dramatisch mit Nebel und Einspielermusik. Aber das Publikum habe immer gelacht. „Erst waren wir ratlos, dann haben wir eingesehen, dass wir lustig sind und Zaubern mit Comedy verbunden.“
Der Humor der „Zauderer“ trifft den Nerv eines deutschen Kreditinstituts. Über 500 Mal dürfen sie auf Informationsveranstaltungen Powerpoint-Präsentationen zur Altersvorsorge mit Zauber-Einlagen unterbrechen. Nach 15 Jahren steigt Timothy Trust aus der Gruppe aus und Grammel wird unruhig. „Ich habe dann erkannt, dass ich mir auch mein eigenes Standbein aufbauen sollte.“
Ein schielender Vogel namens Justus
Wenn er schon alleine auftritt, möchte er wenigstens eine Puppe dabei haben. Seine erstes Bauchrednertier bestellt er bei einem amerikanischen Versand im Internet. Justus nennt er den schielenden Vogel, der dank Grammels Hand und Stimme zum Witze-Erzähler wird. „Das war ganz schlecht, was ich damals gemacht habe“, sagt Grammel: „Zum Glück ist mir das aber aufgefallen.“ Als der Berliner Schlagersänger Frank Zander ihn zu seinem Pilotdreh einer nie ausgestrahlten Puppensendung einlädt, lernt Grammel einen Puppenbauer kennen. Neun Monate später geht aus dieser Bekanntschaft Frederic hervor. Wieder handelt es sich dabei um einen schielenden Vogel. Dieses Mal soll er aber eine Persönlichkeit bekommen. „Wie die Figuren aus der Muppet Show“, sagt Grammel.
2009 nimmt Universal Grammels Puppen-Solo unter Vertrag. 2011 strahlt RTL sein Programm aus. „Und ab da ging es ab“, sagt Grammel irgendwo zwischen Havel und Zitadelle. Wenn er im Zug einschlafe, würde er geweckt und jetzt nicht mehr vom Schaffner, sondern von Autogrammjägern. Er sagt, er fühle sich dann wie Thomas Gottschalk. Die meiste Zeit genießt Grammel die Aufmerksamkeit. „Es sei denn, ich habe mich mal gestritten oder bin traurig“, ergänzt der Puppenspieler, der manchmal ein bisschen klingt, als würde er gerade Moderator für ein Kinderprogramm sein.
„Als es mir nach einer großen Show mal nicht gut ging, hab ich es geschafft mit Kapuze auf, unerkannt ins Hotel zu kommen“, erzählt er dann. „Aber als ich auf meinem Zimmer nach einer halben Stunde aus dem Fenster geguckt habe und da noch immer eine Familie mit kleinen Kindern stand, taten die mir so leid, dass ich noch mal runter bin.“ Grammel lacht kurz auf: „Ich habe die dann gefragt: Wartet ihr auf ein Autogramm von mir? Und die so: Nee, wir warten auf ein Taxi.“ Der Puppenspieler verzieht das Gesicht. „Das war schon ziemlich peinlich.“
Schrittzähler am Hosenbein
An Grammels Cargo-Hosenbein sitzt ein Schrittzähler. 7118 Schritte ist er am heutigen Tag gelaufen. „Auf insgesamt 5,3 Kilometer habe ich 2050 Kalorien verbrannt“, ermittelt er per Knopfdruck. Der Zähler kommuniziere mit einer App auf seinem Telefon, die die Daten auswerte. „Ich trage da auch ein, wie viel ich trinke. Denn wenn man nicht genug trinkt, bekommt man Kopfschmerzen.“ Grammel erklärt gerne Alltägliches. Warum er aber seine Schritte und sein Trinkverhalten statistisch auswertet? Er hält sich den Bauch. „Als Kind war ich mal dick.“
Deswegen rede er auch auf der Bühne über Ernährung. Eigentlich habe er sich dafür die Schildkröte Josie bauen lassen, aber das Thema habe nicht zu ihr gepasst. Die Figur landetet für ein paar Monate im Keller. Heute unterhält er sich mit einem sprechenden Hamburgerbrötchen über Ernährung. Der Rowohlt Verlag hat das zum Anlass genommen, den sprechenden Hamburger zum Autor eines Ernährungsbuches zu machen. „Ich habe das gemeinsam mit einem Co-Autor geschrieben“, sagt Grammel: „Aber ich finde, das kann man immer nur fünf Minuten am Stück lesen. Das ist schon ziemlicher Nonsense.“
Über sein Privatleben mag der Bauchredner nicht sprechen. Gerade bekommt man noch aus ihm heraus, dass seine Mutter bei seinen Berliner Shows ab und zu im Publikum sitzt: „Sie war ganz erstaunt, dass ich in meinem neuen Programm jetzt auch singe“, sagt Grammel. „Gut fand sie es zwar nicht. Aber wohl trotzdem nicht so schlimm, wie sie erwartet hätte.“ Lässt Grammel denn Privates auf der Bühne einfließen? Der Puppenspieler schüttelt den Kopf. „Als ich die ersten Male mit Josie über das Heiraten gesprochen habe, habe ich einen Witz auf Kosten einer anderen Person eingebaut. Mittlerweile habe ich den wieder rausgenommen. Ich habe mich nie gut dabei gefühlt.“
Auf der Bühne gelingt es ihm, Privates und Job zu trennen, im Privatleben jedoch nicht. Er sei nicht „so einer“ der sich auf seine Rente freue, oder im Urlaub „komplett abschalten“ wolle. Das seien Menschen, die ihren Job nicht liebten. Er aber liebe seinen Job. Deswegen habe er auch in seinem jüngsten Türkeiurlaub häufiger über neue Ideen nachgedacht. „Um mein Umfeld nicht damit zu belasten, rede ich da dann aber nicht drüber. Das spielt sich alles im Kopf ab.“
Er probt zu Hause vor dem Spiegel
Die Idee aus der Schildkröte, die sich nicht für Ernährungsthemen eignet, einen sprechenden Geldautomaten zu machen, sei ihm beim Bezahlen an einer Tankstelle gekommen. „Ich habe die Karte mehrfach falsch in das Lesegerät gesteckt, bis der Kassierer mir die Karte abgenommen und erklärt hat, wie man es richtig macht.“ Neue Geschichten probiert er mit seinen Figuren zu Hause vor dem Spiegel aus.
Auf der Bühne lässt er sich filmen, zu Hause kontrolliert er die Aufnahme: Kommen seine Witze an, lässt er sie drin. Kommen sie nicht an, ändert er sie. „Obwohl nicht immer. Es gibt auch Stellen, da lacht nie jemand. Aber weil ich sie mag, bleiben sie trotzdem drin.“ Welche zum Beispiel? „Ich habe einen Außerirdischen in meinem neuen Programm, der kommt von einem halbweichen Planeten.“ Grammel macht eine Pause. „Da muss man aufpassen, wo man hintritt.“ Er kichert. „Keiner findet das lustig. Ich schon.“
Er redet mit einem Hamburgerbrötchen und singt mit einer Latexschildkröte – hauptberuflich. Hat Grammel manchmal Momente in denen er sich fragt: Was mache ich hier eigentlich? „Doch“, sagt der Bauchredner: „Solche Momente hat es gegeben. Das sind dann Phasen, in denen man nicht weiß, wem das eigentlich nützt, was man macht.“
Grammel möchte seinem Publikum nützen, indem er ihm Alltagsflucht anbietet: „Deswegen will ich keine politischen oder Witze auf Kosten anderer machen. Ich möchte, dass man bei meiner Show komplett abschalten kann.“
74 Shows macht er dieses Jahr
Er will weiterreden, aber ein älteres Ehepaar kommt direkt auf ihn zu. „Kennen wir Sie nicht aus dem Fernsehen?“ Nach ein paar höflichen Sätzen, können wir unseren Weg durch das Spandauer Dickicht fortsetzen. Immer im Kreis und niemals zu nah an der Freilichtbühne, aber trotzdem vor Fans nicht sicher.
74 Shows macht er dieses Jahr. Grammel sagt, er könne auch noch mehr Shows machen, wenn er wolle. Er könne auch nebenbei noch drehen. Aber er wolle das alles gar nicht. „Mir geht’s bei dem, was ich mache, ja nicht um das Geld“, beteuert er. „Mein Ziel ist es, das Bauchreden so lange wie möglich machen zu können. Und wenn ich jetzt anfange 250 Shows im Jahr zu geben, dann würde es mir ganz sicher bald keinen Spaß mehr machen.“
Gleich wird nun Sascha Grammel mit Schildkröte Josie über Ehe reden und über Einsamkeit singen. Der Mond wird währenddessen in der Kulisse aufgehen. Ein Teil des Publikums wird später zu Hause eine E-Mail verfassen. An ihn – oder auch seine Puppen.