Irgendwann nach vier Uhr morgens springt der grüngefiederte Vogelmensch mit seiner Ukulele im Anschlag von seinem Platz auf. Die Tram nimmt eine Rechtskurve und der Musiker hält sich einen Moment am Fahrkartenautomaten fest. Er zupft die Saiten seines Instruments und schickt in hoher Sopranlage seine Botschaft durch das Abteil: „Magical Train. You Are the Magical Train“, trällert er mit entrücktem Blick. An den Fensterscheiben der Tram M10 fließt die Berliner Nacht vorbei, Spätkauf-Leuchtschriften, Banken, Bars.
Die Metrotramlinie M10, die zwischen Prenzlauer Berg und Friedrichshain pendelt, trägt viele Namen. Einer davon lautet Sterni-Express, er rührt von dem angeblich legendären Konsum von Sternburger Pils (Kasten 8,50 Euro) in der Tram. Andere nennen die Linie die Ballermann-Bahn, Berghain-Tram, der geografischen Lage geschuldet, auch den Hipster-Hopper oder ganz lakonisch einfach nur die Zehner.
Das Dilemma der BVG
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) selbst sprechen weniger szenig vom „Nachtschwärmer-Express“. Die Metrotram-Linie 10 „verbindet die besten Party-Orte Berlins“, rührt die BVG auf ihrer Webseite die Werbetrommel. Das dürfte Sprecher Klaus Wazlak inzwischen vielleicht ein wenig zu laut und offensiv sein. „Zum großen Andrang haben vor allem entsprechende Veröffentlichungen in ausländischen Reiseführern beigetragen“, sagt er. Der Lonely Planet, die Bibel für Rucksacktouristen, preist die M10 als hippen Szeneort, den sich der Berlin-Besucher auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Die BVG zeigt sich hin- und hergerissen: Die aufwendigen Reinigungen der Trams nach ausgearteten Partyfahrten sind schlichtweg eine Kostenfrage. Doch was wiegt mehr? Internationalität und vielleicht gar ein wenig Sexyness oder gespartes Geld und porenreine Sitzbezüge? Das typische Berlin-Dilemma.
Ding, Ding, Ding. „Nächste Station Prenzlauer Allee/Danziger Straße“ schallt die Frauenstimme, die, anders als andere Stimmen in der Tram, zu keiner Uhrzeit ins Lallen gerät, aus den Lautsprechern. Die Uhr zeigt gleich halb zwei. Schienengeheul, Stopp, elektrisches Piep, Piep – und die M10 schiebt ihre Türen für den nächsten Schwall von Gästen auf. Dimitri Schwarzbaum hievt eine mächtige Verstärkerbox in die Tram und versucht, seine E-Gitarre irgendwo zu verstauen. Der 25-Jährige fährt jeden Tag mit der M10, sie bringt ihn runter nach Friedrichshain. Wenn der Gitarrist dann das gleißende Blau der O2 Arena sieht, in weiter Ferne das Logo von Universal, dann weiß er, dass er sich mit der nächsten Gruppe aus der Tram spucken lassen muss. „Wir haben einen kleinen Gig, gleich in ein paar Minuten. Direkt an der Warschauer Brücke, da bei der Litfaßsäule. Naja, eigentlich ist es schon losgegangen, also Beeilung“, sagt Dimitri Schwarzbaum. „Kommt einfach mit!“
Im Rhythmus der Straßenbahn
Dass die Metrolinie schon seit einigen Jahren zu einem zentrale Zubringer für Clubgänger und Verpeilte aller Art avancieren konnte, verdankt sie dem besonderen Linienverlauf. In der Nacht fährt sie alle 15 Minuten und bringt die Fahrgäste zum Beispiel in das Watergate, in den Magnet, den Club der Visionäre, das White Trash, das Chalet oder eben das Berghain. Das Geschehen hat sich in den vergangenen Jahren allerdings spürbar verlagert. Von Prenzlauer Berg, wo dem sogenannten Clubsterben etwa das Icon und der Klub der Republik zum Opfer fielen, hin nach Friedrichshain.
Die 52 Sitzplätze und 131 Stehplätzen sind um zwei Uhr nachts belagert von Menschen, die es im Rhythmus der Straßenbahn weiter durch die Hauptstadt zieht. Einige von ihnen sind einsam, andere kommen sich nah. Hier sitzen solche, die ihren Kummer ersaufen, und solche, deren Körper vor Lebensfreude spannen. Einige hätten für den Abend, für die Woche, für das Jahr vielleicht längst so etwas wie eine Notbremse ziehen müssen. Andere drücken erst jetzt so richtig aufs Gas.
Wer sich erinnert, war nicht dabei
Lion Müller dreht die Stimmung noch ein bisschen auf. Das bedeutet, er wischt über sein iPhone, immer schön den digitalen Musikregler weiter hoch. Ein Kabel verbindet das Smartphone mit einer kleinen Box, dem Jay-Tech Mini Bass Cube, wie der 22-Jährige erklärt. Der Sound bockt, sagt Lion. Er hat eine Ein-Liter-Cola-Flasche in der Hand, in der er sich was zusammengemixt hat. Er nickt seinem Freund zu, wie er Elektriker für Automatisierungstechnik. Noch einen Schluck aus der Pulle und er reicht die Flasche weiter. Wo es hingeht? „Auf eine No-Name-Party im Mauerpark.“ Was da in der Flasche drin ist? „Flüssig-LSD, ist doch klar. Neee, Scheeerz, Alter!“ Er zückt sein Handy noch einmal, lacht, und belegt den Absturz des letzten Wochenendes mit einem Foto: ein Freund, grünes T-Shirt, Arme auseinander gespreizt, auf dem Boden liegend. Frei nach dem Motto: Wer sich erinnert, war nicht dabei.
Anders sieht das der BVG-Sprecher. „In der Vergangenheit haben wir immer wieder auch Kontrollen mit Sicherheitspersonal durchgeführt“, sagt Klaus Wazlak. Er verweist auf die Hausordnung der Verkehrsbetriebe, Paragraf 3 Punkt 6: untersagt ist „übermäßiger Alkoholgenuss“. „Natürlich ist es illusorisch, den Alkohol hier ganz zu verbieten. Die Frage ist bloß in welchem Maße der Konsum erfolgt und ob wirklich kästenweise Bier getrunken werden muss“, sagt der BVG-Sprecher. Die Frage ist aber auch, wie viel Kult bei der altehrwürdigen BVG erlaubt ist. Das Dilemma der Verkehrsbetreiber: Sollen die Mitarbeiter den Frohsinn auf der M10 einfach wegkontrollieren oder die Leinen etwas länger lassen?
Ein Trupp Betrunkener steigt aus
Pling. „Nächste Station Eberswalder Straße“. Mathias Wagner spießt mit der Holzgabel noch einen Pommes auf und zieht ihn durch das Ketchup. Auch seine Freundin Stefanie Flader hat einen kleinen Pappteller in der Hand, sie isst die Pommes mit Mayonnaise. Die zwei spiegeln sich in der schwarzen Scheibe der Tram. Der Streckenverlauf draußen ist ruhig, wenige Lichter rasen vorbei, und so sieht das Pärchen einige Augenblicke nur sich selbst in dem Fenster. Mathias ist 26 Jahre und hat Stefanie schon in der Schule kennengelernt, draußen in Oranienburg. Seither sind sie zusammen und leben seit zweieinhalb Jahren in der Großstadt. Man habe einfach das Gefühl, dass man hier mittendrin sei. „Das man an der Quelle ist“, sagt Mathias. Die Kaputtheit einiger Leute, tja, die gehöre doch dazu. Die Tram rüttelt durch eine Kurve und Stefanie erzählt von einer Theorie, die ihr neulich zu Ohren kam: „In jeder Tram, das gilt natürlich für diese hier ganz besonders, gibt es immer mindestens einen Verrückten“, sagt die Mittzwanzigerin. Die M10 ist der Nährboden für solche Großstadtanekdoten. Stefanie überlegt kurz, lacht und schiebt noch hinterher: „Das Wichtigste ist natürlich, dass man nicht selber irgendwann der Verrückte wird.“
Ein paar Kilometer entfernt an der Haltestelle Warschauer Straße. Der E-Gitarrist Dimitri Schwarzbaum hat seinen Verstärker längst aufgebaut. Neben einer Litfaßsäule beschallt seine Band „The Children of Freedom“ das Areal an der Warschauer Brücke, seine Riffs sind auch noch drüben bei dem Kaisers-Supermarkt zu hören, der 24 Stunden geöffnet hat und auf dessen Stufen Trinker sitzen. Der nächste M10 stößt einen Trupp Betrunkener aus. Vor der Band von Dimitri tanzen jetzt einige Dutzend, nah und eng, aggressiv und aufgekratzt, einige besoffen, einige nüchtern.
Die Geschichte der M10
Die Geschichte der M10, das wird am Beispiel der Haltestelle Warschauer Straße deutlich, ist auch eine historische. Direkter Vorgänger der Linie M10 waren die zwei Straßenbahn-Ringlinien 4 und 5, die noch in den Goldenen Zwanzigern die Berliner Gesellschaft beförderten. Nur eine überlebte den Zweiten Weltkrieg, allerdings mit verkürzter Linienführung. Im Jahr 2006 nahm die BVG die Linie M10 in Betrieb. Während der Freitagnacht steuern vier Trams insgesamt 20 Stationen an und schlagen dabei einen Bogen um die Mitte der Hauptstadt. Sie brauchen für eine Fahrt vom Nordbahnhof bis zur Warschauer Straße nach Plan 28 Minuten.
Gefühlt hat die Fahrt für Viktoria Terjung länger gedauert, wie sie sagt. Die 25 Jahre alte Hamburgerin – schwarzes Handtäschchen, rote Fingernägel, perfekt sitzende Frisur, wohnhaft in Rotherbaum – echauffiert sich über den Gräuel, der ihr gerade in der M10 widerfuhr. „Ein 20-Jähriger hat den ganzen Wagen vollgekotzt.“ Sie blickt sich um, mustert die Menschen um sie herum und fragt: „Warum sehen die hier alle so aus, als hätten sie Schlafanzüge an?!“ Viktoria Terjung ist für ein paar Tage ihre ehemalige Mitschülerin besuchen. Und in der großen Gruppe gehen sie heute gemeinsam feiern, es geht in den Suicide Circus an der Revaler Straße. Ihre Frage geht unter im Stimmengewirr der Gruppe.
Die Fahrt endet hier
Die Klänge der Band The Children of Freedom schallen bis zur Endhaltestelle, auf der anderen Seite der Warschauer Brücke. Dort klopft Gregore Heldenbergh auf seine umgedrehte Camels-Schachtel und lässt eine Zigarette herausfallen. Er hat sich heute etwas früher von seinen Freunden verabschiedet, die noch im Chalet feiern. Der 23 Jahre alte Franzose stammt aus Toulouse und macht in Berlin ein Ferienpraktikum. „Ich gehe mal eher nach Hause, weil ich ganz schön krank bin“, sagt Gregore und deutet auf seinen Hals. Egal, die Zigarette zündet er sich dennoch an. „Warum soll man das Leben nicht auskosten? Bin ja nicht ewig hier.“ Aus der Dunkelheit gleitet das gelbe Licht der M10 heran. „Fahrt endet hier“, steht auf der Leuchttafel der Tram. Der Fahrer bremst ab und löscht das Licht in seiner Kabine. Er nimmt einen roten Ordner und durchschreitet die leere Tram bis zur Fahrerkabine auf der gegenüberliegenden Seite. Hier setzt er sich, knipst das Licht an. Die Schalttafel zeigt nun: „M10 Richtung S Nordbahnhof“. Die Reise geht weiter.