Plötzlich reißt sich der American Staffordshire Terrier los, rennt in den Kaninchenstall vom Kinderbauernhof im Görlitzer Park. Ein alkoholisierter Mann eilt dem Hund hinterher und zerrt ihn Sekunden später wieder aus dem Stall. Doch anstatt das Tier seiner Besitzerin, einer Dame Mitte sechzig, zurückzugeben, hält der Mann die Leine fest und verschwindet mit dem Hund.
Die umstehenden Kinder wollen das nicht zulassen. Sie beschimpfen den Mann lauthals, hören auch nicht auf, als er schließlich den Hund doch noch freigibt und mit seiner Plastiktüte voller Pfandflaschen das Weite sucht.
Dann scheppert plötzlich Glas. Der Mann hat eine Bierflasche in Richtung Kinder geworfen. Sie verfehlt ihr Ziel und zerplatzt auf dem Gehweg. „Los, wir verprügeln ihn“, schreien die vier etwa zwölf Jahre alten Kinder daraufhin und rennen dem Mann hinterher.
Doch er entkommt, und die zwei Jungen und zwei Mädchen laufen zurück in den Bauernhof. Nach einer kurzen Schelte gibt ihnen eine Mitarbeiterin Futtertüten für die Ziegen.
Dealer verkaufen auch an Minderjährige
Diese Szene spielte sich Freitag im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg ab. Passanten interessierten sich für den Vorfall nicht. In diesem Mikrokosmos einer Metropole sind solche Geschehnisse anscheinend zu alltäglich. Viele schätzen den 14 Hektar großen Park. Jugendliche entspannen im Gras, Kinder spielen unweit von ihren Eltern, Musiker, Jongleure und andere Künstler bieten kostenloses Entertainment.
Tagsüber zumindest. „Nachts würde ich hier nicht durchlaufen“, sagt Petra Bewernicke, die am Kottbusser Tor wohnt und seit 20 Jahren in den Park kommt. Denn schon lange ist der Görli als Drogenumschlagplatz bekannt. Die Dealer sind oftmals kontaktfreudiger, als man es sich wünscht, kommen unaufgefordert auf einen zu, um Drogen anzubieten.
„Das afrikanische Empfangskomitee ist im letzten Jahr merkbar gewachsen“, sagt Claudia Schneck aus Friedrichshain. „Und die verkaufen auch an Minderjährige. Das geht gar nicht!“, fügt Petra Bewernicke hinzu. Für die Sicherheit im Park müsse mehr gemacht werden, finden beide.
Bis zu 1000 Straftaten pro Jahr
Zwischen 700 und 1000 Straftaten werden hier Jahr für Jahr registriert, unzählige Drogendelikte und dazu Taten im Bereich der Beschaffungskriminalität. Polizeisprecher Stefan Redlich bestätigt, dass das Wachsen der Drogenszene im Park bekannt ist und dass in den wärmeren Jahreszeiten eine ansteigende Anzahl der Gewalt- und Eigentumsdelikte festgestellt wurde, Zahlen nannte er allerdings nicht. Dass Kriminalität im Park zum Alltag gehört, zeigte sich erst vor einigen Tagen wieder.
Am Abend des 3. Juli 2013 gerieten zwei Männer in Streit, schlugen aufeinander ein und mussten von einem Passanten getrennt werden. Einer der beiden Kontrahenten erlitt lebensgefährliche Verletzungen, die in einem Krankenhaus notoperiert werden mussten. 36 Stunden später, um 0.30 Uhr am 5. Juli, wurde ein 27-Jähriger auf der Brücke nahe dem Görlitzer Ufer von mehreren Männern bedroht und mit einem Messer attackiert. Er wollte ihnen keine Drogen abkaufen. Einen Tag später wurden vier mutmaßliche Täter festgenommen. Der Jüngste von ihnen, ein 15-Jähriger, soll zugestochen haben.
2011 wurde Park grundlegend saniert
Derartige Auseinandersetzungen sind alles andere als selten. Im November vergangenen Jahres verlor ein 19-Jähriger durch eine Messerattacke ein Ohr, ein Jahr zuvor wurde ein 26-Jähriger im Streit erschossen. „Leichtere“ Delikte wie etwa Schlägereien und Bedrohungen gibt es im Görlitzer Park nahezu jeden Tag. Schon 2011 reagierte das Bezirksamt auf die Unzufriedenheit vieler Anwohner. Wege wurden beleuchtet, und für 1,5 Millionen Euro wird der Park grundlegend saniert.
Die im Bau befindlichen Wege findet Bewernicke schön. Von mehr Sicherheit oder weniger Drogengeschäften wegen der Beleuchtung habe sie jedoch nichts mitbekommen. „Mein Sohn hat erst vor Kurzem wieder einen Drogendeal im Gebüsch hier gesehen“, sagt die Mutter. „Hier gehören Kinder hin. Nicht die Dealer.“ Viele Eltern stimmen Bewernicke zu, kommen nur in den Park, um die Angebote zu nutzen.
Die bietet unter anderem der Verein „Unser Görli“. Geleitet wird er von der Parkmanagerin Rahel Schweikert und ihrem Lebensgefährten Andreas Teuchert. Ihr Ziel ist es, dass die verschiedenen Nutzergruppen des Parks mehr Verantwortung übernehmen und im Gegenzug den Park nach ihren Bedürfnissen mitgestalten können. Teuchert und Schweikert wollen die „Kreuzberger Mischung“ im Görli erhalten, ohne dass der Park kippt. Ein langfristiges Parkmanagement soll etabliert werden.
Viele Anwohner resignieren
„Man merkt das Engagement der Bürgerinitiativen im Park“, sagt Nina Smith aus Kreuzberg. Die 27-Jährige geht mit ihrer zweijährigen Tochter Tonya jede Woche in den Kinderbauernhof. Schon seit 1981 gibt es den Verein auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände. „Kinder werden bei uns pädagogisch betreut“, erklärt die Angestellte, Gerda Nelson. Vor 15 Jahren war Nelson selber in einer Parkgruppe. Seitdem habe sich wenig verändert. „Eher sind hier nun mehr Drogendealer. Ich habe nicht mehr den Elan, mich weiter zu engagieren. Man resigniert mit der Zeit.“
Zwar führt die Polizei regelmäßig Drogenrazzien im Park durch, aber den Dealern gelingt es immer wieder, sich darauf einzustellen. Die Geschäfte finden an Plätzen statt, von denen aus die ganze Umgebung eingesehen werden kann, das Auftauchen der Polizei bleibt zumeist nicht unbemerkt. Und die meisten Dealer haben zumeist genau die Menge Drogen bei sich, die noch als Eigenbedarf gewertet werden kann. Der Rest ist gut versteckt. Und Verstecke gibt es im Park genug.