Viermal mal drückt der Makler auf den kleinen silbernen Knopf im noch relativ schäbigen, gelb getünchten Treppenhaus. Nichts tut sich. „Ich bringe diesen Fahrstuhlfuzzi um. Gestern sage ich ihm noch, morgen kommt jemand, da muss der Fahrstuhl gehen und nun das“, schimpft Franz Strohofer*. Das rollende R entlarvt ihn als Nicht-Berliner, als Franken. Wohnungsbesichtigungen unterliegen ähnlichen Regeln wie das erste Rendezvous: Alles soll perfekt sein und kleine Makel werden entweder als liebenswerte Eigenheiten kaschiert oder besser ganz versteckt.
Das Potenzial für Stolperfallen ist in beiden Fällen riesig und so drückt Strohofer ein letztes Mal auf den Fahrstuhlknopf, bevor er sich grummelnd an die Besteigung der fünf Stockwerke macht; empor zu dem, wonach so viele suchen und dem nur noch wenige habhaft werden können: drei Zimmer, 100 Quadratmeter mit Einbauküche und sonnigem Balkon in Prenzlauer Berg. Aktuell gibt der Verband der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU) für den Stadtteil eine Leerstandsquote von 1,6 Prozent aus. Je differenzierter dabei die Ansprüche an die neue Bleibe sind, desto schlechter stehen naturgemäß die Aussichten, fündig zu werden. In diesem Fall waren ganze vier Wohnungsbesichtigungen die Ausbeute einer dreiwöchigen Suche.
Alles erscheint irgendwie beige
Der Altbau in der Schönhauser Allee wird derzeit einer Sanierung unterzogen, die das Haus am Ende etwas moderner und seine Mietwohnungen um einiges teurer machen wird. Dafür gibt es dann einen glasverkleideten Fahrstuhl im Innenhof, der zumindest optisch schon jetzt was hermacht. Strohofer weist auf die alte Holzverzierung rund im die neuen Briefkästen hin. Solche Dinge wolle man auch nach der Renovierung des Treppenhauses erhalten. Der Wohlstand hält Einzug in die Gründerzeitbauten, von denen die meisten den Zweiten Weltkrieg verhältnismäßig unversehrt überstanden haben.
In den 90er-Jahren boten sie Studenten und Kreativen erschwinglichen Lebensraum, bevor Prenzlauer Berg nach der Jahrtausendwende zum Inbegriff für das internationale, junge Berlin avancierte. Das Publikum wurde zahlungskräftiger, die Ansprüche an den Wohnraum stiegen. Zu viel des Guten entscheidet das Bezirksamt Pankow und verbietet seit Januar 2013 sogenannte Luxussanierungen, die durch den Zusammenschluss von kleineren Wohnungen Wohnfläche vernichten und die Mietpreise auf über zehn Euro pro Quadratmeter treiben.
Die 102 Quadratmeter große Wohnung befindet sich im ausgebauten Dachgeschoss und kostet 1.450 Euro warm. Ein dunkler Flur hinter der Eingangstür mündet in eine Wohnküche. Sandsteinfarbene Fliesen zieren die Wände in der Küche und den Bädern. Der Vollholz-Parkettboden aus Eiche trägt als Überbleibsel der Renovierungsarbeiten eine weiße Staubschicht.
Alles erscheint irgendwie beige und dabei ziemlich konventionell. Strohofer hinterlässt auf seinem Weg durch den Flur eine Reihe weißer Fußabdrücke. Das Wohnzimmer wirkt mit seinen Winkeln und Schrägen wie ein zusammengesunkener alter Mann, dessen eigentliche Größe sich nur erahnen lässt. Weiß verkleidete Dachbalken, die baumartig im Raum verteilt den Boden mit der Decke verbinden, verstellen Weg und Sicht. Sie sind omnipräsent und verstecken sogar Lichtschalter hinter ihren Massen. Kollisionen sind auf die Dauer wohl kaum zu vermeiden. Einer tatsächlichen Altbauwohnung hätte man die Dachbalkenschar als charmante Eigentümlichkeit ausgelegt. Doch von einem Neubau wird Makellosigkeit gefordert, steckt ja im Wort.
Prenzlauer Berg erstreckt sich plötzlich bis zum S-Bahnhof Pankow
Strohofer breitet die Arme aus und atmet tief ein, um danach ein verbales Verkäufer-Ass aus dem Ärmel zu ziehen. „Wenn ich nicht schon eine Wohnung hätte, würde ich hier sofort einziehen.“ Sonnenstrahlen fallen durch das große Terrassenfenster mit Südlage und lassen erahnen, woher die tropischen Temperaturen im Raum rühren. Der Makler preist die erfahrungsgemäß niedrigen Heizkosten an und wischt sich mit dem Ärmel eine Schweißperle von der Stirn. Erfrischung und Wellness in Beige verspricht das Badezimmer mit ebenerdiger Dusche und Regenwaldduschkopf. Ein rechteckiges Waschbecken direkt hinter der Tür drängt die Frage auf, was wohl geschieht, wenn Frau Neumieter sich morgens schlaftrunken über dem Becken das Gesicht wäscht und Herr Neumieter schwungvoll die Badezimmertür öffnet.
Die verbleibenden beiden Zimmer stehen im Kontrast zur restlichen Wohnung, denn sie erscheinen unerwartet normal. Nichts steht im Weg und es besteht eine realistische Chance, Möbel unterzubringen, die über die Größe eines Beistelltischchens hinausgehen. Strohofer dagegen kann sich mit der Raumaufteilung nicht anfreuden. Er fällt aus der Rolle des Verkäufers und setzt zu einer Schimpftirade auf die zuständige Architektin an. „Manchmal hätte ich diese Frau am liebsten aus dem Fenster geworfen“, beendet er seinen Monolog. Den Fahrstuhltechniker umbringen, die Architektin aus dem Fenster schmeißen – von Unterhaltung versteht der Mann etwas, keine Frage, aber wer soll nun die Wohnung mit der laut eigener Aussage schlechten Zimmeraufteilung beziehen?
Die wenigen freien Wohnungen sind heiß begehrt und die Sorgen der 90er, auf einer Wohnung am Ende sitzen zu bleiben, gehören der Vergangenheit an. Nicht selten erstreckt sich heute Prenzlauer Berg bis zum S-Bahnhof Pankow oder verdrängt halb Weißensee. Mit Versprechungen von Innovation, flexibler Architektur und dem Ende der Langweile blähen sie ihre Exposés auf und steigern die Erwartungen der Suchenden.
Das Märchen der „Rückzugsoase“
Was sich hinter der Worthülse „Rückzugsoase“ verbirgt, zeigt die Besichtigung einer Hochparterre-Wohnung nahe der Greifswalder Straße. Während sich die gepriesene „flexible Architektur“ als eine ungemütliche Kombination aus Wohn- und Büroräumen entpuppt, verheißen die großen Fensterfronten ein Leben auf dem Präsentierteller. Daran können sich allerdings nur vorbeiziehende Passanten erfreuen. Mit Hilfe eines Steuertouchpads im golden gestrichenen Eingangsbereich lassen sich LED-Beleuchtung und Raumtemperatur regulieren, theoretisch.
Für die Wohnungsbesichtigung präsentiert sich der kleine Bildschirm ausschließlich in modernem schwarz, woran auch beharrliches Antippen seitens des Maklers, und die Androhung, den Stecker zu ziehen, nichts ändern. Dem Vorsatz des energieeffizienten Wohnens kommt das Gerät aber auch inaktiv nach, indem es nicht nur sich selbst, sondern auch einen Großteil der Beleuchtung und die Heizung mit sich in die Untätigkeit reißt. So viel Innovation gibt es für 1.520,18 Euro Warmmiete im Monat auf 98,9 qm.
Etwas bodenständiger geht es ein paar Kilometer weiter nördlich am Helmholtzplatz zu. Anstelle von technischem Klimbim finden sich hier Regale mit allerhand Bällen und Buddelzeug im Treppenhaus. Sie erübrigen die Frage, wer wohl noch im Haus wohnt. Zwei Interessenten buhlen um die Gunst von Frau Seibert, der aktuellen Mieterin. Sie soll dem Eigentümer bis Ende der Woche fünf Nachmieter vorschlagen. Mieter mit kurzfristigen Umzugsplänen und Eigentümer gehören zu den wenigen Profiteuren der Wohnungsnot. Frau Seibert möchte so schnell wie möglich mit ihrer Familie in die neue Wohnung ziehen. Schwierig dürfte das nicht werden, sagt sie: Seitdem sie die Mietanzeige im Internet geschaltet hätte, quelle ihr Posteingang buchstäblich mit Besichtigungsanfragen über.
Den heutigen Termin bestreiten ein Mitte-30-Pärchen mit ihren zwei Kleinkindern und eine Mutter mit ihren beiden Söhnen. Mitbestimmungsrecht haben die Kinder trotz ihrer Überzahl nicht. Ihre Anwesenheit ist viel mehr ein taktisches Mittel, der ultimative Beweis sozusagen für die Dringlichkeit der Wohnungssuche. Wer will schon Schuld sein, wenn Familie C. aus B. plötzlich in einer Wohnung am Stadtrand leben muss, das wäre ja fast biblisch.
Säugling ist immer dabei
Als würde der Mietvertrag bereits unterschriftsfähig in der Küche warten, rauscht die Gruppe von Zimmer zu Zimmer. Anmerkungen und Hinweise auf anstehende Abstandszahlungen werden ausnahmslos mit einem eifrigen Nicken und einem „natürlich, natürlich“ bejaht. In vier Minuten ist die Führung durch die 97 Quadratmeter große Bleibe vorbei und alle, oder wenigstens die Erwachsenen, sind sich einig: „Ja, wir haben großes Interesse!“ Sämtliche guten Ratschläge, was denn bei einer Erstbesichtigung unbedingt zu beachten sei, sind vergessen. Alles ist recht. Anstelle von wohnungsspezifischen Fragen setzen die Suchenden auf eine detaillierte Beschreibung ihres bisherigen Leidenswegs und machen kein Geheimnis aus ihrer Verzweiflung.
Frau Seibert bemüht sich die Situation zu entkrampfen und wirft ein, dass der Eigentümer Familien mit Kindern den bevorzuge. Wie aufs Stichwort zückt der Vater, um dessen Hals ein schlafender Säugling im Tragetuch baumelt, eine Klarsichthülle aus der Tasche und reicht sie der Vermieterin. Er hätte schon mal ein paar Dokumente zusammengestellt und ob sie die denn brauchen könne, fragt er betont beiläufig. Frau Seibert zögert und verweist auf eine Liste, in die sich alle ernsthaften Interessenten eintragen können. Seufzend zieht der Vater einen Kugelschreiber aus der Tasche.
Eines der ungeschriebenen Gesetze bei der Wohnungssuche heißt: Wer als erstes alle wichtigen Dokumente liefern kann, hat die besten Voraussetzungen der neue Mieter zu werden. Bedenkzeit ist ein Luxus, der die Option auf die Wohnung kosten kann. Viele Interessenten drücken daher der zuständigen Person schon kurz hinter der Haustür ihre Unterlagen in die Hand. In die Verlegenheit, am Ende wegen einer anderen Wohnung Absagen zu müssen, kommen nur die Wenigsten.
Im besten Fall landen die Unterlagen sofort bei der richtigen Person, dem Eigentümer und Entscheider. Zu sehen bekommen potenzielle Mieter den aber häufig erst, wenn sie alle Hürden genommen und nur noch die Unterschrift im Mietvertrag fehlt. Ausnahmen aber bestätigen auch hier die Regel, beispielsweise bei einer Besichtigung in der Prenzlauer Allee. Mit zehn Minuten Verspätung rennt Herr Wagner, der Eigentümer, an dem einzigen Wartenden vorbei und schafft es auf die Weise doch noch, ihn persönlich an der Haustür zu empfangen. 99 Quadratmeter, Holzdielen und sonnendurchflutete, zweckmäßig geschnittene Räume für 890 Euro Kaltmiete geben der Hoffnung auf die perfekte Wohnung erneut reichlich Nahrung. Auf dem Balkon angekommen, findet sie ihr jähes Ende. Straßenlärm schallt herauf und bringt die Konversationen zum Erliegen. Der Blick des Interessenten schweift in Ferne, hinüber nach Pankow, wo die Straßen noch mäßig befahren und die Chancen auf eine Wohnung deutlich höher sind.
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