Berlins Pädagogen protestieren online: Auf der Seite “Heiße Kiste“ können Lehrer, Eltern und Schüler die Missstände an ihren Schulen posten.
Florian Bublys ist ein besonnener Mensch, den so schnell nichts aus der Bahn werfen kann. Das muss er auch sein, schließlich hat er als Lehrer häufig mit schwierigen Situationen zu tun, in denen es hilft, die Ruhe zu bewahren. Ein Thema allerdings bringt Bublys in Rage. Das ist das Berliner Schulsystem. „Es fehlen gut ausgebildete Lehrer, immer mehr Unterricht wird von Vertretungskräften gegeben, die nicht qualifiziert sind“, sagt er. Diese Flickschusterei führe zu einem Qualitätsverlust. „Die Leidtragenden sind die Schüler.“
Was Bublys in diesem Zusammenhang besonders aufregt, ist die Tatsache, dass Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Lage offenbar ganz anders einschätzt. Es gebe keinen Notstand, der Bedarf an Lehrkräften könne gedeckt werden, hat die Senatorin Bublys und seinen Kollegen, die sich zu der Initiative „Bildet Berlin“ zusammengeschlossen haben, Ende März in einem Gespräch mitgeteilt. Die Initiative macht sich für mehr Unterrichtsqualität stark und setzt sich auch dafür ein, dass verbeamtete und angestellte Lehrer gleichberechtigt behandelt werden. Doch da sie mit Gesprächen und Briefen nicht mehr durchdringen, haben die jungen Lehrer jetzt einen anderen Weg gewählt: den Protest im Netz.
Unterricht fällt wochenlang aus
Auf der Internetseite von "Bildet Berlin" haben die Macher die Rubrik "Heiße Kiste" eingerichtet. Dort können Lehrer, Eltern und Schüler die Missstände an ihren Schulen posten. „Wir wollen zeigen, dass die Realität an den Berliner Schulen anders ist als offiziell dargestellt“, sagt Bublys. Die Beispiele sollen offenlegen, auf welche Art und Weise Unterricht oft stattfindet und wie stark die Qualität der Bildung darunter leidet. „Wir müssen davon ausgehen, dass die Bildungssenatorin und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit nur auf diesem Weg dazu zu bewegen sind, den Tatsachen ins Auge zu sehen“, sagt der 34-Jährige.
Die Einträge in der „Heißen Kiste“ sprechen für sich. Alexander Wolf schreibt dort zum Beispiel, dass er als Quereinsteiger begonnen habe und an zwei Gymnasien sofort als Mathe- und Physiklehrer voll eingesetzt worden sei. Er habe sogar Abiturkurse leiten müssen. Niemand habe ihn im Unterricht besucht oder ihm helfend zur Seite gestanden. Wolf ist inzwischen ausgebildeter Lehrer und an einer Privatschule tätig.
Über das Askanische Gymnasium in Tempelhof wird in der „Heißen Kiste“ berichtet, dass Anfang des Schuljahres ein Deutschlehrer krank geworden sei. Daraufhin sei der Unterricht in einer siebten Klasse einige Wochen lang ausgefallen. Dann hätten nacheinander die Geschichtslehrerin und ein Referendar einige Stunden übernommen, bis zu Beginn des zweiten Halbjahres endlich eine Vertretungskraft gefunden worden sei. Dieser Lehrer, von dem die Schüler begeistert sind, werde allerdings nach den Sommerferien eine Stelle in Niedersachsen antreten. Dort wird er verbeamtet.
Eltern, deren Kinder die Grundschule im Taunusviertel in Lichtenrade besuchen, berichten auf der Internetseite, dass im Herbst eine Lehramtsanwärterin als Leiterin einer vierten Klasse eingesprungen sei. Nach wenigen Wochen sei sie bereits absolut überfordert gewesen. Die Schüler hätten sehr darunter gelitten.
Doris Dreißig, sie ist Elternvertreterin an der Taunus-Grundschule und Mitglied des Bezirkselternausschusses Tempelhof-Schöneberg, ist von der „Heißen Kiste“ überzeugt. „Die Missstände müssen öffentlich gemacht werden“, sagt sie und ruft alle Eltern auf, ihre Erfahrungen ebenfalls zu posten. Als Elternvertreterin wisse sie, dass die Situation an vielen Schulen katastrophal ist, sagt Dreißig. „Viele Eltern sagen allerdings nichts, weil sie froh sind, dass überhaupt Unterricht stattfindet.“ Doch so könne es nicht weitergehen.
In der Senatsbildungsverwaltung scheint man über die Berichte in der „Heißen Kiste“ indes verärgert zu sein. Offiziell heißt es, dass man zu diesen größtenteils anonymen Berichten keine Stellung nehme. Hinter den Kulissen rumort es aber beträchtlich. Eltern haben erfahren, dass Schulleiter und Lehrer, über deren Schulen auf der Internetseite von „Bildet Berlin“ berichtet worden ist, von der Verwaltung unter Druck gesetzt und zur Stellungnahme aufgefordert worden sind.
Vertretungslehrer werden überprüft
Der Vorsitzende des Landeselternausschusses, Günter Peiritsch, hält die Reaktion der Bildungsverwaltung für unangemessen, er fordert die Senatorin zum offenen Dialog über die Probleme auf. Die in der „Heißen Kiste“ aufgeführten Missstände kann er nur bestätigen. Auch wenn die Schulen im Durchschnitt knapp zu 100 Prozent ausgestattet seien, gebe es 300 Schulen, an denen nicht alle Stellen besetzt seien. Im Vertretungslehrerpool stünden gar nicht genügend Kräfte zur Verfügung, geschweige denn mit der nötigen Qualifikation. Eine Anleitung, wie sie Studenten oder Quereinsteiger eigentlich bräuchten, könnten die Kollegen an der Schule oft nicht leisten, da sie selbst überlastet seien, so Peiritsch.
Beate Stoffers, Sprecherin von Bildungssenatorin Scheeres, sagt, dass gegenwärtig rund 700 Vertretungskräfte an den Berliner Schulen im Einsatz seien. Die Verwaltung habe jetzt eine zentrale Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Eignung dieser Vertretungskräfte kontrollieren soll. „Grundsätzlich gilt jedoch, dass die Unterrichtsfähigkeit aller Dienstkräfte ohne volle Lehrbefähigung von der jeweiligen Schulleitung geprüft werden muss“, sagt Stoffers. Die Schulleiter seien auch dafür verantwortlich, dass die Vertretungskräfte Hilfe und Anleitung bekommen und ihr Unterricht begutachtet wird.
Florian Bublys, der an einem Gymnasium in Mitte Biologie und Politik unterrichtet, arbeitet trotz aller Probleme gern in Berlin. „Ich würde in einem anderen Bundesland zwar besser bezahlt werden und hätte sicher auch weniger Stress“, sagt er. Doch das sei nicht sein Anliegen. „Ich habe mir vorgenommen, nicht nur zu jammern, sondern etwas zu tun.“ Bildung sei das wichtigste Gut einer Gesellschaft, verhindere Arbeitslosigkeit und fördere die Integration. Deshalb müsse so viel wie möglich in die Schulen investiert werden.
Aus der Bildungsverwaltung kommt schließlich noch eine gute Nachricht. Im Mai fanden bis zum Dienstag die zentralen Einstellungsrunden statt. Die erste Bilanz sei positiv, konstatiert Stoffers. Für 247 Stellen, die bei diesem zentralen Vergabeverfahren besetzt werden sollten, habe es 336 Bewerber gegeben. Sogar für sogenannte Mangelfächer wie Mathe und Physik hätte es mehr Bewerber als Stellen gegeben. Die übrigen Stellen sollen jetzt über dezentrale Verfahren an den Schulen selbst besetzt werden.
Die Initiative „Bildet Berlin!“ will sich nicht nur auf den Protest im Internet beschränken. Sollte sich an den Zuständen in den Schulen nichts ändern, kündigen die Verantwortlichen ab Herbst Streiks der Lehrer an. Eine erste Aktion startet am Donnerstag, 7. Juni. Ab 16 Uhr haben die Initiatoren mit der GEW eine Protestveranstaltung vor der Bildungsverwaltung angesetzt. Dort wird das „Schwarzbuch Schule“ veröffentlicht, in dem alle geposteten Missstände zusammengefasst sind.