Auch am Donnerstag wurde an Bahngleisen in Berlin ein Brandsatz gefunden. Jetzt diskutieren Politiker über die Gefahr aus der linksextremistischen Szene.
Mehr als ein Dutzend Brandsätze im Herzen der Hauptstadt, eine mysteriöse Gruppe namens „Hekla Empfangskomitee“, ein Bekennerschreiben. Was ist das, was sich in Berlin gerade abspielt? Ein gut geplanter Sabotageakt? Politische Brandstiftung oder gar die Ansätze eines neuen Linksterrorismus? Nach den Anschlägen auf die Bahnanlagen streitet die Politik darüber, wie gefährlich die linksextreme Szene in Deutschland ist. Die Debatte verläuft dabei klar entlang der politischen Lager: Die SPD weist Warnungen aus der Union vor einem neuen Linksterrorismus zurück.
Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) warnte am Donnerstag vor übertriebenen Reaktionen auf die Serie von Anschlagsversuchen. Ein Bürgerkrieg solle nicht an die Wand gemalt werden, sagte der Senator im RBB-Inforadio. Zwar könne man den Begriff „Terroraktion“ verwenden, von Terrorismus wollte Körting aber nicht sprechen. Er gehe weiterhin davon aus, dass hinter den Anschlägen nur eine kleine Gruppe stehe. Auch der SPD-Innenexperte im Bundestag, Dieter Wiefelspütz, warnte vor einem leichtfertigen Umgang mit dem Terrorismusbegriff. Bei den Anschlagsversuchen sei es bei aller berechtigten Empörung um einen Eingriff im Schienenverkehr gegangen, nicht um „wahlloses Töten“.
„Vorstufe des Linksterrorismus“
Die Aktivitäten der Gruppe „Hekla Empfangskomitee“, die allem Anschein nach laut einem Bekennerschreiben hinter den Anschlägen steckt, hätten in der linksextremistischen Szene keine Unterstützung, sagte Körting. Er trat damit dem Eindruck entgegen, es könne eine neue Welle linksextremistischer Anschläge bevorstehen. „Die Aktivitäten der Gruppe werden in der linksextremistischen Szene überwiegend abgelehnt“, so der Innensenator. Tatsächlich wird in den einschlägigen Foren im Internet die Sinnhaftigkeit der Anschlagsversuche in Berlin eher kritisch diskutiert.
Im Vergleich zur Stimmungslage bei den Innenexperten der SPD, zeigt sich die Union beunruhigter. Von „verbrecherischen, terroristischen Anschlägen“ hat hier bisher aber auch nur Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) gesprochen. In der Landespolitik am Ort des Geschehens ist die Wortwahl noch zurückhaltender. Berlins CDU-Chef Frank Henkel nannte die versuchten Brandanschläge eine „erschreckende Eskalation“ und eine „neue Form des Extremismus“, mit der die Politik sich auseinandersetzen müsse. Henkels Parteikollege Uwe Schünemann, der Innenminister Niedersachsens, hatte die Anschläge zuvor als „Vorstufe des Linksterrorismus“ bezeichnet. Bundesinnenminister Hans-Peter-Friedrich (CSU) sagte, man müsse wachsam sein, dass sich die Gewaltbereitschaft, die sich in den Anschlägen zeige, nicht zu einem neuen Linksterrorismus entwickle.
Angst vor einer zweiten RAF
Ein „neuer“ Linksterrorismus – über der Debatte hängt sofort der lange Schatten der 70er-Jahre und die Angst vor einer gewaltbereiten Gruppe wie der Roten Armee Fraktion (RAF). Doch diese Sorge sei in der aktuellen Situation unbegründet, sagen Politikwissenschaftler übereinstimmend.
Gero Neugebauer etwa, Experte für Linksextremismus an der Freien Universität, sieht keine Parallelen der aktuellen Geschehnisse zum deutschen Terrorismus der 60er- und 70er-Jahre. Es gebe zwar Unmut in Zeiten der Finanzkrise, von einer revolutionären Umbruchstimmung sei man in Deutschland aber weit entfernt, sagte Neugebauer am Donnerstag. „Wir haben nicht die Stimmung in Deutschland, in der eine Gruppe wie Hekla Zustimmung finden würde.“ Es gebe „keine Leute, die eine neue Zeit herbeibomben“ wollten, sagte der Politikwissenschaftler. Allen bisherigen Erkenntnissen nach sei die Tätergruppe klein und isoliert, sagte Neugebauer. „Es gibt kein Netz für den Handel von Waffen oder Sprengstoff, es gibt keine geheimen Unterkünfte und helfenden Sympathisanten.“ Mit Hilfe einer solchen Infrastruktur hatte die RAF Deutschland lange Zeit in Atem gehalten.
Auch Dieter Rucht, Experte für Protestbewegungen am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, glaubt nicht, dass Deutschland vor einer neuen Spirale linker Gewalt stehe, weil die Taten Einzelphänomene seien, die schnell wieder abklingen könnten. Die RAF, so Rucht, sei „eine ganz andere Nummer gewesen“. Bei den Brandanschlägen wie jetzt in Berlin gehe es vor allem um eine symbolische Bedeutung. Die geringe Sprengkraft der Brandsätze könne ein Indiz dafür sein, dass es eine gewisse Hemmschwelle gebe, so Rucht. Allgemein schwinge bei linksextremen Taten eine zunehmend radikale Kapitalismuskritik mit.
Sinnhaftigleit wird bezweifelt
Der Berliner Verfassungsschutz geht in seinem letzten Bericht von etwa 2260 Personen aus, die in der Stadt dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen seien. Diese Zahl ist gegenüber 2009 leicht gestiegen – die Gruppe der Gewaltbereiten unter ihnen blieb dem Verfassungsschutz zufolge im Vergleich zum Vorjahr jedoch stabil bei etwa 1100 Personen. Die Zahl der Delikte der politisch motivierten Kriminalität von links war 2010 gesunken, doch bereits jetzt ist abzusehen, dass das laufende Jahr in dieser Hinsicht einen neuen, traurigen Rekord aufstellen dürfte. Allein die Zahl der Brandanschläge auf Autos war bis zum Sommer weit höher als in den Vorjahren.
Und doch gilt bei den zuständigen Behörden die Erkenntnis, dass die linke Szene extrem zersplittert ist, und jede Aktion kritisch diskutiert wird. Gerade an der Sinnhaftigkeit von Anschlägen wird in der Szene offenbar stark gezweifelt – auch weil ein zustimmendes Echo in der Bevölkerung fehlt, wie auch Extremismus-Experte Neugebauer sagt. Die Aktionen gehen also in Sachen revolutionäre Bewegung der Gesellschaft eher nach hinten los.
Nur wenige Erkenntnisse
Doch trotz einer Debatte über Sinn und Grenzen von Gewalt, sind in diesem Jahr mehr zielgerichtete, militante Aktionen zu beobachten. Über die Täter weiß man oft wenig. Einheitlichere Gruppen und Verhaltensmuster so wie in der Neonazi-Szene gebe es im Linksradikalismus nicht, sagte Neugebauer. Die Aktionen der Linksextremisten würden sich gegen den Staat und das System richten, wie auch im Rechtsradikalismus – vergleichbar seien die Strukturen jedoch nicht. „Man weiß wenig darüber, wie in der linken Szene Radikalisierungsprozesse funktionieren. Es gibt keine Karrieremuster.“ Politikwissenschaftler Neugebauer ist daher kritisch, was den Nutzen der neu aufgelegten Aussteigerprogramme für Linksextremisten angeht. „Wenn man Aussteigerprogramme anbietet, muss man wissen, wie die Leute einsteigen.“