Thorsten Gunther* ist im Zwiespalt. Auf der einen Seite sorgt er sich um die Bewohner seiner Station, für die er heute nicht da sein kann. Auf der anderen Seite will er den Streik aussitzen bis zum Schluss. Und Schluss sei erst, wenn auf seiner Gehaltsabrechnung die gleiche Zahl stehe wie auf der seiner Kollegen im Westen Berlins.
Gunther arbeitet in dem privaten Pflegeheim Alpenland in Biesdorf. Jeden Tag wäscht, windelt, füttert und versorgt er alte Menschen. „Ich arbeite wie am Fließband“, sagt er. Zeit für individuelle Betreuung und Zuwendung bleibt ihm dabei nicht. Wie auch, ist der 28-Jährige doch zeitweise allein für bis zu 46 Pflegebedürftige zuständig. Nicht auszudenken, wie die Situation in einem Notfall aussehe. „Die Bewohner liegen mir am Herzen, und ich bin hoch motiviert“, sagt der Pflegehelfer. Doch das nütze alles nichts, wenn er überall gleichzeitig sein müsse: In der Küche Stullen schmieren, Staub wischen in den Zimmern, Akten führen, Bettlägerige umlagern und die Fragen Angehöriger beantworten. Am Ende des Monats bekomme er 1150 Euro brutto. Und damit bis zu 300 Euro weniger als seine Kollegen von Alpenland im Westen der Stadt.
Das wollen die gut 200 Pfleger der drei Häuser im Osten nicht länger auf sich sitzen lassen und treten mit der Unterstützung von Ver.di zum ersten Mal in der Geschichte Berlins in unbefristeten Streik. „Dass wir 20 Jahre nach dem Mauerfall im Osten noch so hinterherhinken, ist frustrierend“, sagt Verhandlungsführerin Maike Jäger. Am meisten ärgere sie sich darüber, dass in Berlin so viel Überschuss produziert werde, dass jährlich 200.000 Euro nach Baden-Württemberg geleitet würden, um in den Alpenland-Heimen dort einen Sanierungstarifvertrag zu finanzieren. „Das kann ja wohl nicht sein, dass die Mitarbeiter im Osten Berlins auf eine Angleichung an die Westlöhne verzichten müssen, damit die Kollegen im Süden Deutschlands noch besser verdienen“, sagt Jäger.
Auf Anfrage dieser Zeitung wollte sich die Geschäftsführung von Alpenland zu diesen Zahlen nicht äußern. Nur so viel: „Wir sind nicht grundsätzlich gegen Tarifverträge, die Forderungen müssen aber auch refinanzierbar sein“, sagt Michael Pfüller aus der Geschäftsführung. Ein Pflegehelfer, der seit 2004 bei Alpenland arbeitet, meint die Klauseln für einen Tarifvertrag zu kennen. „Die wollen, dass wir fünfeinhalb Tage die Woche arbeiten, die Nachtschicht zehn Stunden lang ist und wir unseren Dienst auf morgens und abends aufteilen.“ Eine Zumutung sei das.
Während Gunther und 50 seiner Kollegen auf der Straße in ihre Trillerpfeifen blasen und ihre Forderungen auf Bannern vor der Heimleitung auf- und abtragen, versorgen der Rest der Belegschaft und Leiharbeiter die Pflegebedürftigen. „Die haben uns unter Druck gesetzt, dass wir schuld sind, wenn den alten Leuten was passiert, weil wir streiken“, sagt Gunther. „Deshalb machen viele aus Angst nicht mit.“ In der Tat habe man an das Gewissen der Mitarbeiter appelliert, sagt Pfüller von der Geschäftsführung.
Thorsten Gunther will mit seinen Kollegen so lange wie nötig vor dem Heim im Berliner Osten vor Ort sein, um die Forderungen deutlich zu machen. „Wenn wir uns hier durchsetzen, dann kommt das nicht nur uns, sondern auch den Bewohnern zugute.“
*Name von der Redaktion geändert