Emilia will die Welt erobern. Besucher nimmt sie an die Hand und dann geht es los. Quer durchs Kinderzimmer, kurz ins Wohnzimmer, zurück ins Kinderzimmer - mal schauen, was Zwillingsbruder Lennard gerade macht - dann wieder ins Wohnzimmer. "Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass Emilchen so bald laufen lernt, dann hätte ich das nie geglaubt", sagt Emilias Mutter Daniela S. Vor einem Jahr noch hätte es allerdings auch niemand gewagt, Daniela S. Versprechungen über Emilias weitere Entwicklung zu machen. Die Ärzte gaben ihr damals eine Überlebenschance von 20 Prozent. Das Mädchen wurde wochenlang im Krankenhaus wegen eines angeborenen Herzfehlers behandelt. "Manchmal konnte man das Kind vor lauter Schläuchen kaum sehen. Ein Junge mit ihrer Prognose wäre gestorben, hat ein Arzt gemeint. Mädchen halten mehr aus", sagt Daniela S. Im Moment ist Emilias Zustand stabil, dennoch bleibt ihre Krankheit lebensbedrohlich. Jeder Tag, an dem Emilia mit wackligen Beinchen die Wohnung unsicher macht, ist deshalb für ihre Mutter ein Geschenk.
Die Rundumbetreuung der schwer kranken Emilia und ihres gesunden und ausgesprochen munteren Bruders ist Schwerstarbeit. An zwei Tagen wöchentlich für jeweils etwa vier bis fünf Stunden steht der alleinerziehenden Mutter die Familienhelferin Renate Glock zur Seite. Die ehemalige Senatsangestellte im Vorruhestand unterstützt Daniela S. bei alltäglichen Aufgaben.
Wenn man sieht, wie selbstverständlich sie Windeln wechselt, mit den Kindern spielt, liest und schmust, dann spürt man, dass sie einen festen Platz im Kreis der kleinen Familie hat. In den letzten Wochen half sie, den Umzug in eine größere Wohnung zu organisieren, während der langen Krankenhausaufenthalte springt Renate Glock mitunter tagelang ein und kümmert sich um den kleinen Lennard, damit Daniela S. von früh bis spät bei Emilia am Krankenbett wachen kann. Einen normalen Alltag gibt es für die kleine Familie nicht, Ausnahmesituationen sind die Regel.
Renate Glocks Einsatz wird über den ambulanten Kinderhospizdienst des neu gegründeten Vereins "Berliner herz" vermittelt, der vom humanistischen Verband Deutschland getragen wird. Während sich die Hospizbewegung für Erwachsene als reine Sterbebegleitung versteht, hat die Kinderhospizbewegung einen anderen Anspruch. Der Antrag auf Betreuung kann nach Diagnosestellung einer lebensbedrohlichen Krankheit gestellt werden. Liegt eine langwierige Erkrankung, wie beispielsweise Muskelschwund, vor, dann begleiten die Helfer die betroffenen Familien über Jahrzehnte.
Etwa 500 lebensbedrohlich erkrankte Kinder leben in Berlin. "Die betroffenen Familien geraten in diesen belastenden Situationen schnell in eine soziale Isolation", sagt die Diplom-Sozialpädagogin Tina Gatidis vom Verein "Berliner herz". An bislang sieben Familien hat der Verein seit April ehrenamtliche Helfer vermittelt. "Viele Familien warten lange, ehe sie Hilfe in Anspruch nehmen", so Tina Gatidis weiter. "Andere melden sich gar nicht erst, weil sie Angst haben, dass die Hilfe Geld kostet. Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand kommt und ihnen helfen will, ohne Geld dafür zu verlangen." Zu den ehrenamtlichen Familienhelfern gehören Männer und Frauen im Alter von 25 bis 70 Jahren. Einige sind bereits im Ruhestand, viele stehen noch voll im Berufsleben.
"Es gibt Momente, die einen immer wieder umhauen", sagt Renate Glock. "Ganz schlimm ist es, wenn die Kinder merken, dass sie sterben und plötzlich beginnen, ihre Sachen zu verschenken." Seit sieben Jahren engagiert sich die Familienhelferin in der Kinderhospizbewegung. Das erste Kind, das sie betreute, war ein Junge aus Italien: Fortunato, auf Deutsch "der Glückliche", sieben Jahre alt, zart, schmächtig, unheilbar krank und gefangen in dem Körper eines Zweieinhalbjährigen. "Ein Traumkind. Alle Schwestern und Ärzte haben ihn geliebt ", sagt Renate Glock und beginnt zu weinen. "Ich kann es bis heute nicht ertragen, mir Videos von ihm anzusehen."
Bereits mehrmals hat sich Renate Glock um ausländische Kinder gekümmert, die sich in Deutschland lebensrettenden oder lebensverlängernden Operationen unterziehen mussten. Besonders ans Herz gewachsen ist ihr Zurbeida aus Afghanistan. Die damals Zwölfjährige war an Leukämie erkrankt und musste zwei Jahre fernab von ihrer Familie verbringen, dann kehrte sie nach einer Reihe von Operationen zurück. Jetzt ist sie 16 und besucht eine deutsche Schule in Kabul. "Wir telefonieren noch jeden vierten Sonntag miteinander", berichtet die Familienhelferin. Zu fast allen Familien, die sie jemals betreut hat, hat sie noch regelmäßigen Kontakt. Die gemeinsam erlebten schmerzhaften Situationen lassen ganz besondere Bindungen entstehen.
Auf die Frage, ob sie sich noch erinnern kann, wie viele Kinder sie bereits betreut hat, kommt die Antwort ohne zu zögern: Vor Emilia und Lennard waren es genau 17. "Man gewöhnt sich an die Kinder, sie wachsen einem so sehr ans Herz", sagt Renate Glock. Dann drückt sie Emilia ganz fest.