Altenpflegerin Brigitte Heinisch aus Berlin hatte Anzeige gegen ihren Arbeitgeber Vivantes erstattet - wegen Missständen im Betrieb. Ihr wurde gekündigt. Zu Unrecht, so urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Arbeitnehmer, die Missstände in ihrem Betrieb öffentlich anprangern, müssen künftig weniger Angst vor negativen Konsequenzen haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR entschied am Donnerstag in einem wegweisenden Urteil zugunsten einer Altenpflegerin aus Berlin. Die heute 49 Jahre alte Brigitte Heinisch hatte jahrelang die schlechte Hygiene und die Personalknappheit in ihrer Vivantes-Einrichtung kritisiert und den Arbeitgeber schließlich wegen Betruges angezeigt. 2005 wurde sie fristlos entlassen.
Die Straßburger Richter sahen darin einen Verstoß gegen das Recht auf Meinungsfreiheit. Sie argumentierten unter anderem, die Öffentlichkeit habe ein großes Interesse daran, über Mängel in der Altenpflege Bescheid zu wissen: Dieses sei wichtiger als das Interesse des Unternehmens an seinem guten Ruf und dem geschäftlichen Erfolg.
Das Kammerurteil des EGMR ist noch nicht rechtskräftig. Falls Deutschland dagegen vorgeht, müsste sich die Große Kammer des EGMR mit dem Fall befassen.
Die Pflegerin war in einem Altenheim der Vivantes GmbH angestellt, die mehrheitlich dem Land Berlin gehört. Sie hatte unter anderem Flugblätter über die Pflege-Missstände in der Reinickendorfer Einrichtung verteilt. Mit ihrer Einschätzung der Situation war sie nicht alleine: Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte bei einem Kontrollbesuch 2003 wesentliche Mängel festgestellt, etwa einen gravierenden Personalnotstand.
Dies bewahrte die Pflegekraft allerdings nicht vor einer Kündigung. Brigitte Heinisch hatte 2004 Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber gestellt, nachdem frühere Beschwerden über die unzureichende Personalausstattung und mangelhafte Pflegestandards fruchtlos geblieben waren. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
Ihr Arbeitgeber zeigte sich vor allem empört über die von ihr eingereichte Strafanzeige wegen Betruges. Vor deutschen Gerichten scheiterte die Frau: Die Vorwürfe ließen sich nicht beweisen und rechtfertigten keine Strafanzeige, so etwa ein Berliner Arbeitsgericht. Die Klägerin sah in ihrer Kündigung und der Weigerung der deutschen Gerichte, ihre Wiedereinstellung anzuordnen, einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Das Menschenrechtsgericht sprang ihr nun bei. Es „lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frau Heinisch wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hätte“, unterstrichen die Richter. Die deutschen Gerichte hätten diese Aspekte nicht ausreichend gewürdigt. Mit der Kündigung seien nicht nur negative Folgen für die berufliche Laufbahn der Altenpflegerin verbunden, führt der Menschenrechtsgerichtshof weiter aus. Damit sei zudem auch eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter des Unternehmens verbunden. Die Berichterstattung über den Fall könne sogar gesamtgesellschaftlich einen negativen Effekt haben, indem andere Arbeitnehmer in der Pflegebranche vom Anprangern von Missständen abgehalten würden. Der deutsche Staat muss der Klägerin insgesamt 15.000 Euro Schmerzensgeld und Prozesskosten zahlen, weil er ihre Grundrechte nicht ausreichend geschützt hat.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die die Berlinerin vor Gericht unterstützt hatte, zeigte sich hoch zufrieden mit dem Straßburger Urteil: „Jetzt können sich Beschäftigte endlich ohne Angst vor Kündigung an die Strafverfolgungsbehörden wenden, wenn sie gravierende Missstände in ihren Unternehmen feststellen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende Gerd Herzberg. „Zivilcourage zahlt sich aus, auch wenn die Klägerin einen hohen Preis bezahlen musste“, sagte Doro Zinke vom Deutschen Gewerkschaftsbund in Berlin-Brandenburg.
Auch nach Auffassung des Justiziars der Linke-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Neskovic, stärkt der EGMR „all jene, die bislang aus Angst vor Repressalien durch Umfeld und Arbeitgeber über Missstände schwiegen“. Es sei „dringend an der Zeit, dass auch der deutsche Gesetzgeber – insbesondere arbeitsrechtlich – Menschen schützt, die die Zivilcourage und den Mut aufbringen, Missstände anzuprangern“. Es handelt sich um einen sogenannten Whistleblowing-Fall, bei dem ein Arbeitnehmer Missstände am Arbeitsplatz offenlegt und damit seinen Job riskiert. Die deutschen Gerichte hätten die fristlose Entlassung von „Whistleblowern“ immer wieder für rechtens erklärt, kritisierte Neskovic.
EPD/KNA/dapd/sei