Die harsche Ablehnung, die Thilo Sarrazin bei einem Besuch in Kreuzberg und Neukölln vergangene Woche von vielen Menschen entgegengeschlagen ist, hat eine Debatte über Toleranz und Dialogfähigkeit in der Stadt ausgelöst. Sarrazin musste einen Rundgang mit einem TV-Team abbrechen, wurde ausgebuht und vereinzelt als Rassist beschimpft.
Er sei aus einem Berliner Stadtteil, der sich als „die Speerspitze der Integration in Deutschland“ verstehe, „herausgemobbt“ worden, schreibt Sarrazin in einem Gastbeitrag für Morgenpost Online: „Wehe uns, wenn Kreuzberger Zustände die Werkstatt des künftigen Deutschland sind.“ Im Stadtteil Kreuzberg leben 145.000 Menschen. Davon sind mehr als ein Drittel Migranten, darunter 20.000 türkische Staatsbürger.
Senatssprecher Richard Meng lehnte es ab, den Vorgang zu kommentieren. Berlin sei aber eine tolerante Stadt, darauf lege der Senat Wert. CDU-Landes- und -Fraktionschef Frank Henkel sagte, der Umgang mit Sarrazin sei einer offenen und toleranten Großstadt nicht angemessen: „Man darf den Menschen in Deutschland nicht das Gefühl geben, dass man über die vorhandenen Integrationsprobleme nicht reden darf“, warnte Henkel.
Eine Gruppe von Vertretern der alevitischen Religionsgemeinschaft in Deutschland äußerte sich in einem offenen Brief an Sarrazin „bestürzt“ darüber, dass ihm die alevitische Gemeinde den Zugang verwehrt hatte und distanzierte sich von diesem Vorgehen.
Politiker von SPD und Grünen warfen Sarrazin hingegen vor, er habe mit seiner Tour durch den grün-rot regierten Kiez provozieren und PR betreiben wollen. „Ich habe Verständnis dafür, dass die Zivilgesellschaft in Kreuzberg Herrn Sarrazin zeigt, dass er dort eine unerwünschte Person ist“, sagte der SPD-Kreisvorsitzende Jan Stöss. Der Kreuzberger Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu sagte, die lautstarke Kritik sei kein Zeichen von Intoleranz, sondern ein Zeichen von politischer Reife. „Was hat er denn erwartet, so wie er sich verhalten hat? Dass ihm der Obsthändler auch noch Erdbeeren schenkt?“
Raed Saleh, integrationspolitischer Sprecher der SPD im Abgeordnetenhaus, sagte, natürlich dürfe auch Sarrazin nach Kreuzberg gehen: „Ich hätte mir gewünscht, dass die Leute sich mit ihm auseinandergesetzt hätten.“ Aber Sarrazin habe schließlich Millionen verdient auf dem Rücken derer, die er jetzt besuchen wollte. Die Menschen hätten wohl Sorge gehabt, dass nun die ganze, für viele schmerzhafte Diskussion wieder auflebe.
Sarrazin war mit der Autorin und Journalistin Güner Balci für das ZDF-Magazin „Aspekte“ durch Kreuzberg gegangen. Balci sagt, man könne Sarrazin einiges vorwerfen, aber ein Rassist sei er deshalb noch lange nicht. „Aber genau das wird ihm am häufigsten vorgeworfen.“ Neben vielen Menschen, die Sarrazin zwar nicht mögen, aber bei dem Kiezbesuch den Dialog mit ihm gesucht hätten, habe es auch eine Gruppe gegeben, die „kein Interesse an einem Gespräch hat und es auch nicht für andere zulassen will.“