Neulich in Kreuzberg mit Thilo Sarrazin. Es sollte ein Spaziergang werden, eine lockere Begegnung, fast ein Jahr nach Erscheinen seines Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“. Diesmal würde es nicht das Feuilleton sein, das im Namen der Betroffenen in die Tasten haut – die Migranten als Opfer, Sarrazin als Täter, eine einfache Welt mit simplen Regeln, ohne Platz für Zwischentöne. Diesmal sollten die Empörten selbst zu Wort kommen, ohne intellektuellen Vorbau, ohne selbstgefällige Verbandsvertreter, ohne politische Schwarz-Weiß-Maler und vor allem ohne großes Aufsehen, einfach so, ganz selbstverständlich.
Man kann Sarrazin einiges vorwerfen, zum Beispiel, dass in vielem, was er in seinem Buch über Menschen schreibt, diese zu Formeln, Zahlen und Statistiken reduziert, zu Gruppen zusammengeworfen werden, in denen der Einzelne nicht vorkommt, dass seine Ausführungen zur Vererbbarkeit von Intelligenz zu einseitig und undifferenziert wiedergegeben sind oder dass bei seinen Zustandsbeschreibungen und Thesen nie ein Konjunktiv zu finden ist und seine Sprache alles andere vermittelt als Empathie für die Underdogs dieser Welt – ein Rassist ist er deshalb noch lange nicht. Aber genau das wird ihm am häufigsten vorgeworfen.
Kontakt zur Basis vermisst
Ich hatte mich nach Erscheinen des Buches zurückgehalten, habe bewusst kein Statement abgegeben, schlicht, weil ich zu wenig wusste. Seither hat mich „Deutschland schafft sich ab“ immer wieder beschäftigt. Ich habe das Buch gelesen, habe viel mit anderen Menschen darüber diskutiert und mir alle Rezensionen, Interviews und Feuilleton-Korrespondenzen über Thilo Sarrazin und sein Buch zu Gemüte geführt. Doch eines habe ich in der öffentlichen Auseinandersetzung vermisst: den Kontakt zur Basis. Was mich interessierte, war eine Begegnung Thilo Sarrazins mit den Menschen, um die es geht, wenn von gescheiterter Integration die Rede ist. Deshalb habe ich ihn eingeladen, mit mir einen kleinen Rundgang durch Kreuzberg zu machen.
Einseitige Bilder von Menschen und Vorurteile lassen sich nur abbauen, wenn man sich trifft und miteinander redet. Man darf sich streiten und auch laut werden, man darf seine Befürchtungen und Vorwürfe äußern und seinen Vorurteilen Luft machen. Doch wenn man als Individuum wahrgenommen werden möchte, man sich falsch dargestellt fühlt oder sich einfach mehr Akzeptanz und Toleranz wünscht, dann muss man in den Dialog, es gibt keine Alternative für ein friedliches Miteinander.
Bei unserem Besuch in Kreuzberg gab es Menschen, die genau das verstanden hatten. Sie mögen Herrn Sarrazin nicht, fühlen sich von ihm reduziert, zu Hartz-IV-Empfängern und Obstverkäufern, deren Fleiß er nicht anerkenne. Sie sehen sich als Muslime in einen Topf geschmissen, sind empört, weil er nicht sehen wolle, dass auch sie in Deutschland zu Hause sind, selbst wenn sie arbeitslos sind, schlecht Deutsch sprechen und keinen Schulabschluss haben.
Spaziergang über den "Türkenmarkt"
Und während Thilo Sarrazin zum ersten Mal in seinem Leben mit mir über den Berliner „Türkenmarkt“ am Maybachufer ging und sich allen kritischen Nachfragen der Händler und Besucher stellte und sich jeden Vorwurf mit Geduld anhörte, entstanden Gespräche, wie man sie über die Presse nur selten mitbekommt, Begegnungen mit Menschen, die auch für Thilo Sarrazin ganz neu waren. Da ist der junge Gemüsehändler, gebürtiger Berliner mit müden Augen und türkischen Wurzeln. Ein Gastarbeiterkind nennt er sich und gibt unaufgefordert einen kurzen Einblick in sein Leben, das er sich auch anders vorgestellt hat und das seit der Wende nicht besser geworden ist, dem Moment, als er, der doch eigentlich schon immer ein Berliner war, nur noch als Ausländer wahrgenommen wurde. „Ich würde Deutschland gern verlassen. Ich fühle mich in Deutschland nicht wohl“, sagt er. „Jeder, der hier arbeitet und sich integriert, ist doch willkommen. Warum wollen Sie nicht hierbleiben?“, antwortet Sarrazin. Auch andere Männer, die vorher noch zögerten, mischen sich ein und versuchen Sarrazin ihre Sicht der Dinge zu vermitteln, er hört geduldig zu, antwortet, wenn er gefragt wird. Zwischendrin hört man immer wieder: „Das hab' ich so nicht gesagt, das steht nicht so in meinem Buch.“
Parallel dazu bildet sich eine andere Gruppe, die immer lauter wird, die kein Interesse an einem Gespräch hat und es auch nicht für andere zulassen will, denn für sie ist Sarrazin nicht mehr und nicht weniger als ein Rassist. Dass fast anderthalb Millionen Menschen sein Buch gekauft haben und bis heute fast jede seiner Veranstaltungen ausverkauft ist, interessiert sie dabei nicht, sie leben in einer Welt, in der es Freund und Feind gibt, dazwischen gibt es nichts. Deutschland ein Land voller Rassisten.
Und weil das viele so empfinden, bleibt unser Besuch in Kreuzberg ein kurzer, der geplante Döner bleibt ungegessen. Der stolze Restaurantbetreiber muss seine Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär nun für sich behalten, die grölende Gruppe vor seinem Restaurant droht ihm mit einem Aufstand, wenn er Sarrazin bewirtet. Dabei hatte er sich tagelang auf das Treffen vorbereitet und sich Fragen für den Ex-Finanzsenator überlegt.
Gleich um die Ecke des türkischen Restaurants Hasir, in der Oranienstraße, befindet sich die Berliner Zentrale der türkischen Nationalisten, auch Graue Wölfe genannt, die Mitglieder speisen gerne im Hasir und sind nicht gerade für ihren Wunsch nach Völkerverständigung bekannt, doch das hat hier bisher niemanden gestört. Und auch die ach so liberale und für alle offene alevitische Gemeinde bleibt uns bei unserem Besuch versperrt. Man lässt uns wissen, dass man es sich nach längerer Diskussion doch anders überlegt habe und einem Menschen wie Sarrazin die Türen nicht öffnen werde. Zum Schluss stimmt der Chor der Empörten ein ins „Sarrazin muss weg aus Kreuzberg“, das wird immer lauter und immer schneller, und ich spüre bei den Brüllenden die Dankbarkeit für ein Gefühl, das sich am besten leben lässt, wenn es einen Bösewicht gibt: Wir sind die Guten und wir halten zusammen, wenn es sein muss auch mit unseren schwarzen Schafen – gegen die Anderen.