Mit einem solchen Hilferuf hätte hier vor ein paar Jahren wohl noch niemand gerechnet: „Hilfe, die Touris kommen“, hieß es vergangene Woche im Berliner Szene-Stadtteil Kreuzberg. Die örtlichen Grünen luden Anwohner ein, über das Wohl und Wehe der Touristenschwemme zu diskutieren. Rund 120 Kreuzberger folgten und machten ihren Ärger über Spanier, Italiener und Engländer Luft: Es seien zu viele, sie seien zu laut und verdrängten die Ur-Kreuzberger von ihren angestammten Plätzen.
Der Grünen-Politiker Florian Schärdel, der bei der Diskussion auf dem Podium saß, will so weit nicht gehen. „Wir wollen die Touristen nicht aussperren“, sagt er, doch in den letzten Jahren seien die Interessen der Anwohner zu kurz gekommen. Schärdel wirft dem Berliner Senat vor, den Tourismus als reines Wirtschaftsthema behandelt zu haben. In der Tat ist dessen Kurs auf steigende Zahlen ausgerichtet. Im vergangenen Jahr übersprang Berlin erstmals die Hürde von 20 Millionen Übernachtungen jährlich – für den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ein Ansporn, gleich die 30-Millionen-Grenze anzuvisieren.
Die Anwohner in Kreuzberg sehen diese Entwicklung trotz florierender Gastronomie längst nicht nur positiv, wie Schärdel spätestens seit der Bürgerversammlung weiß. „Hostels mit mehr als hundert Betten in einem Hinterhof führen automatisch zu einem Lärmproblem“, berichtet er. Doch es geht nicht nur um Lärm. „Tourismus verändert die Infrastruktur“, sagt er und nennt als Beispiel die Oranienburger Straße in Mitte, an der sich Cocktailbars und Kneipen aneinanderreihen.
Das ist in Kreuzberg noch nicht so. An der Oranienstraße gibt es auch noch Einzelhändler. „Wir profitieren wenig von den Touristen“, sagt Syme Falco von der italienischen Buchhandlung „Dante“. Höchstens ein paar Postkarten oder Stadtpläne würden von ihnen erworben. Dennoch störe es sie nicht, dass jetzt mehr Touristen kämen. Auffällig fände sie eher, dass statt der Künstler nun Architekten und Designer in die anliegenden Büroräume zögen.
Der östliche Teil von Kreuzberg galt einst als Schwerpunkt türkischer Gastarbeiterfamilien und als Biotop der alternativen Szene. Die Berliner Mauer hatte das in Anlehnung an alte Postbezirke Kreuzberg 36 genannte Viertel an mehreren Seiten eingefasst, und in den vielen Sackgassen blühte die Subkultur. Nach dem Mauerfall blieb hier zunächst die Zeit stehen, denn Prenzlauer Berg und Mitte lockten die meisten Neuberliner und Touristen an. Seit ein paar Jahren ist Kreuzberg wieder in.
„Es ist immer dieselbe Entwicklung“, sagt der Bürgermeister des Bezirks Kreuzberg/Friedrichshain, Franz Schulz (Grüne): Erst gerate eine Straße in Vergessenheit, dann kämen Künstler und Kreative, die den Kiez neu belebten. Nach einer Erwähnung in einem Reiseführer folgten dann die Touristen. Schulz sieht seine Aufgabe darin, das Nebeneinander von Einwohnern und Besuchern „verträglich“ zu gestalten.
Als eine Maßnahme will er Hotel- und Hostelgenehmigungen nur noch restriktiv erteilen. Am liebsten würde er auch Gaststättenkonzessionen so behandeln. Schulz berichtet, dass es in der Friedrichshainer Simon-Dach-Straße 3000 Plätze in Schankvorgärten gebe. Und auch Kreuzberg erlebe eine „Festivalisierung“.
Da der Bezirk einer Kneipe die Genehmigung aber nicht aus stadtplanerischen Gründen verweigern kann, setzt Schulz auf den Dialog mit den Hausbesitzern. „Ein Lokal bringt mehr Miete als ein Farbenladen, aber eine Monostruktur kann auch kippen“, sagt er. Noch gibt es in Berlin kein Beispiel, wo die Touristen einen Stadtbezirk wieder fallen gelassen haben. Vielmehr sucht sich die Subkultur neue Räume – die dann nach ein paar Jahren als Insider-Tipps in Reiseführern auftauchen.