Timo war mal heroinsüchtig. Nun trinkt er nur noch Bier. Mit der Flasche in der Hand steht der blasse 33-Jährige auf dem Franz-Neumann-Platz in Reinickendorf. Den ganzen Tag über sitzen Ex-Junkies dort zusammen, eine Gruppe von zwölf Leuten etwa, die nebenan von einer Ärztin die tägliche Dosis Methadon bekommen, um clean zu bleiben. "Heroin rühre ich nicht mehr an", sagt Timo. Die Anwohner beruhigt das nicht. Sie sehen in den Junkies und Trinkern Anzeichen für den Niedergang ihres Kiezes.
"Ich ertrage das nicht mehr", sagt Birgit Baruth. Die 46-Jährige zog 1998 nach der Geburt ihrer Tochter aus Wedding nach Reinickendorf, an die Stirnseite des Franz-Neumann-Platzes. Damals planschten dort im Sommer noch Kinder im Wasser des Brunnens. So sollte ihre Tochter aufwachsen. Aber heute traut sich die Zwölfjährige abends nicht mehr allein über den Platz, und Mutter Birgit wacht nachts auf, weil Alkoholiker unter ihrem Fenster herumgrölen, erzählt sie.
Das Bezirksamt hat reagiert und Alkoholverbotsschilder am Platz aufgestellt. Das hat wenig bewirkt: Wenn sich Fußstreifen der Polizei nähern, verstecken die Trinker ihre Flaschen. Ordnungsgeld könnten die meisten von ihnen ohnehin nicht bezahlen.
In der Gegend um Franz-Neumann-Platz, Residenzstraße und Letteplatz in Reinickendorf-Ost kann man sich ansehen, wie ein Ortsteil absteigen kann: Es gab Schlagzeilen über Raubüberfälle und Mord, da waren die verprügelte 92-Jährige, der erstochene Jugendliche und der Polizist, der am Geldautomaten niedergestochen wurde, Drogenhandel auf der Straße. Die guten Einzelhandelsgeschäfte schließen, im Frühjahr schrieben die Zeitungen über einen "Rockerkrieg" zwischen den Hells Angels und Bandidos in der Residenzstraße.
Der Niedergang fängt im Kleinen an
Alteingesessene, die es sich leisten konnten, sind weggezogen, Ärmere rückten nach, Hartz-IV-Empfänger und Migranten mit geringer Kaufkraft. Wiederum eine Belastung für den Einzelhandel. Ein Teufelskreis, den man im "Handlungskonzept Letteplatz 2010" vom eigens eingerichteten Quartiermanagement genau nachlesen kann. "Auffällige Veränderungsdynamik" wird er dort genannt. Vor einem Jahr erklärte der Senat deshalb die Gegend zum "Präventionsgebiet".
Das Gebietsmonitoring Soziale Stadt 2007 analysiert die Lage: Der Ausländeranteil im Gebiet liegt bei 35,9 Prozent, 23 Prozent der Bewohner sind verschuldet. Im Sozialstrukturatlas ist Reinickendorf-Ost seit Jahren schlecht bewertet, trotz einer leichten Verbesserung im vergangenen Jahr. Längst fallen die Werte auch auf den Bezirk insgesamt zurück: Im Gesundheitsbasisbericht 2009, den der Senat kürzlich vorgestellt hat, ist Reinickendorf in wichtigen Punkten deutlich abgefallen. So hat die Zahl der Mädchen von zehn bis 14 Jahren, die mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus kommen dramatisch angezogen, von 49 Fällen je 100 000 Einwohner der Altersgruppe auf 86. Bei den 15- bis 19-jährigen Mädchen von 74 auf 183. Damit ist Reinickendorf Spitze in Berlin.
"Die Probleme, die Berlin als Großstadt hat, machen auch vor Reinickendorf nicht halt", sagt Bezirksbürgermeister Frank Balzer (CDU). Er hat sich den Kampf gegen Vandalismus, Graffiti und Drogenhandel vorgenommen. Denn im Kleinen fängt der Niedergang an, sagt er. "Wenn jemand irgendwo eine Mülltüte hinwirft, entsteht da rasch eine ganze Müllhalde, wenn wir nicht eingreifen."
In der Gegend um die Residenzstraße hat das Ordnungsamt nun seine Kontrollen verstärkt. Razzien finden in den Spielotheken und Wettbüros, die hier einziehen, wann immer ein weiteres Fachgeschäft aufgibt, regelmäßig statt.
Auch die Stadtplaner im Bezirksamt arbeiten gegen den Niedergang. Auf dem Franz-Neumann-Platz wurden hellere Lampen installiert, der Letteplatz wird komplett umgestaltet. Vergangene Woche war Grundsteinlegung für den Umbau. Aus dem "Angstraum" soll ein Gemeinschaftsplatz werden, mit Bereichen für alle Generationen und Gruppen, mit neuem Spielplatz und Sitzgelegenheiten, helleren Lampen und Begrünung. 420 000 Euro zahlt der Bezirk dafür. "Wir werden nicht zulassen, dass der Kiez kippt", sagt Thomas Ruschin (CDU), Stadtrat für Ordnungsangelegenheiten.
Gulaschkanone für Bedürftige
Andrea Altinier glaubt daran nicht mehr. Der 39-Jährige betreibt die Eisdiele "Il Gelato Italiano" an der Residenzstraße. "Der Kiez ist bereits gekippt", sagt er. "Ich lebe vor allem von den älteren Reinickendorfern", sagt er. "Aber die werden weniger. Und für Hartz-IV-Empfänger ist ein Eis heute Luxus." Seine Kinder gehen längst nicht mehr im Kiez zur Schule. Beruflich werde es für ihn immer schwieriger: Wo einst Fachgeschäfte waren, sitzen nun Billigfriseure, Call-Shops, Ein-Euro-Shops und Spielotheken. Schaufensterbummel unternimmt kaum jemand mehr. Martin Proschmanns Tätigkeit ist hingegen gefragter denn je. Der Sozialarbeiter steht neben einem Wohnwagen auf dem Franz-Neumann-Platz. Mittwochs organisiert er dort mit seinem Verein eine Essensausgabe. Mit der Gulaschkanone versorgen sie Bedürftige. "Als wir hier anfingen, haben wir so zwölf bis 15 Portionen ausgegeben. Heute sind es locker 40", sagt er. "Die soziale Situation hat sich verschlechtert über die Jahre."
Nur 300 Meter Luftlinie entfernt ist davon nichts zu spüren. Im "Café am See" essen weißhaarige Ur-Reinickendorfer Schnitzel und Sahnetorte und schauen auf den kleinen Schäfersee. Kein Gedanke daran, dass nebenan die Residenzstraße lärmt. "Als ich das Café übernahm, wunderte ich mich, warum kaum Gäste kamen", erinnert sich Inhaberin Silvia Cetin. "Dann beobachtete ich, wie 13-Jährige hier im Park Drogen verkauften." 2003 habe Cetin hier eine Bürgerwehr mitgegründet, das Sicherheitsforum. Ein paar Nachbarn und Polizisten vom Abschnitt 13 patrouillierten abwechselnd um den See. Seitdem habe sich die Lage sehr gebessert, das Café ist nun ein beliebtes Ausflugsziel. "Die Dealer haben wir vom See verdrängt", sagt Cetin. "Aber dass der Polizeiabschnitt geschlossen wurde, ist für uns bedauerlich", sagt sie und grüßt zwei Streifenpolizisten.
Birgit Baruth sitzt im Lokal "Kastanienwäldchen" an der Nordseite des Franz-Neumann-Platzes und klagt Inhaber Norbert Raeder beim Kaffee ihr Leid: dass sie Angst hat, wenn sie einem Rocker von den Hells Angels auf der Straße begegnet. Raeder ist da anders. Locker geht er auf einen Mann namens David zu und schüttelt ihm die Hand. Dem bulligen Hells Angel, der einen Rottweiler an der Leine hält. "Normalerweise würde ihn hier keiner ansprechen", sagt Raeder. Aber der 41-Jährige mit der Vokuhila-Frisur kennt und duzt hier jeden. Sein "Kastanienwäldchen" ist eine Institution im Kiez.
Oft sitzen die Leute nachmittags bei ihm zusammen und diskutieren. Für Raeder sind diese Gesprächsrunden immer auch Wählerkontakt: Der Unternehmer sitzt für die Grauen in der Bezirksverordneten-Versammlung und hat Reinickendorf zur Hochburg der Seniorenpartei gemacht. Im Kiez gilt er als rührig: In der Händlerinteressensgemeinschaft Residenzstraße (IG Resi) kämpft er gegen den Niedergang der einstigen Fachgeschäftsstraße. "Jede Spielothek, die wir verhindern, ist ein Erfolg", sagt er. Die Verlockung für Hauseigentümer sei aber groß: "Es kommen Türken und Araber und legen denen die Geldbündel auf den Tisch", sagt Raeder. Auch Silvia Cetin hat sich der Händlergemeinschaft angeschlossen. Die Ur-Reinickendorferin glaubt fest an den Wiederaufstieg des Gebiets. "Wir sind doch ein Kiez, Gott sei Dank!"