Der Kollege kam in die Redaktion. In der Hand ein Diakasten. "Die habe ich im Sommer auf dem Flohmarkt im Mauerpark gekauft. Für drei Euro. Der Händler, ein junger Ausländer, konnte gar nicht verstehen, warum ich mich darüber so gefreut habe." Aber wir verstanden es, als wir die Aufnahmen sahen. Es waren Bilder einer anderen Welt. Rotstichige, vergilbte Fotos eines Ost-Berlins mit noch vielen Trümmern und, für manchen jüngeren Kollegen, fremden Gebäuden.
Hellauf begeistert war ein in Ost-Berlin Mitte der 60er-Jahre geborener Redakteur: „Mensch, das ist das Berlin, das ich als kleiner Junge kannte! Da steht noch der alte Friedrichstadtpalast. Und da, an der Karl-Marx-Allee, die berühmte Mocca-Milch-Eisbar – die haben ja damals Thomas Natschinski und Team 4 Ende der Sechziger besungen.“
Ein altes Foto wirft immer auch die Frage auf: Wann ist das gemacht worden? So begaben wir uns auf Indiziensuche. Der Fernsehturm ist am 7. Oktober 1969, dem 20. Jahrestag der DDR-Gründung, eröffnet worden, das Haus des Lehrers und die Kongresshalle am Alexanderplatz sind von `64 und Teil der Neugestaltung der Innenstadt. Das Außenministerium der DDR war 1967 fertiggestellt worden. Wir kommen der Sache näher.
Eine total, total verrückte Welt
Am Kino International hängt ein Filmplakat: „Eine total, total verrückte Welt“. Der US-Film mit Spencer Tracy in der Hauptrolle ist von 1963, hatte in Ost-Berlin aber erst am 2. August 1968 Premiere. Doch vom Museum für Film und Fernsehen erfahren wir, dass dieser Streifen womöglich auch mehrere Jahre lief, da es noch nicht allzu viele Produktionen gab, die für ein solch modernes 70mm-Kino gemacht wurden.
Das Bild von der Wachablösung an der Neuen Wache schickten wir dem Cottbuser Rainer Werner, der ein Infoportal über das Wachregiment „Friedrich Engels“ betreibt. „Es könnte Mitte der 60er sein“, schreibt Werner zurück. „Man sieht es an den Podesten, auf denen die Soldaten Wache stehen. Die sind spätestens beim zweiten Großen Wachaufzug am 8.05.’62 aus Beton und in die Stufen des Mahnmals integriert gewesen. Dafür sprechen auch das heute noch vorhandene Steinplattenmuster vor der Neuen Wache und die Höhe der Bäume.“
Womöglich ein Tourist
Einer unserer Fotografen glaubt, dass der Urheber der Bilder ein Profi gewesen sein könnte: „Die Bildausschnitte und die richtige Belichtung weisen darauf hin. Und er ist wahrscheinlich kein Ost-Berliner sondern ein Tourist. Sonst hätte er nicht diese Faszination am zerstörten Gendarmenmarkt gehabt. Hauptsächlich hat er auch Motive zeitgenössischer Architektur fotografiert.“
Dafür würde auch sprechen, dass der Himmel und die Lichtverhältnisse auf allen Bildern gleich sind, so dass die Aufnahmen wahrscheinlich vom gleichen Tag stammen. Das würde zur Verweilerlaubnis eines Besuchers passen. Und wenn dieser Tag vor 1972 war, dann war es eher ein West-Deutscher als ein West-Berliner. Denn die durften wegen der ab 1966 gültigen Passierscheinregelung nicht in den Osten – es sei denn, sie hatten einen westdeutschen Pass, aber den hatten die wenigsten.
Eine Kollegin erinnert sich an die Internetseite www.ddr-strassenleuchten.de . „Wenn ich die Laternen auf den Dias mit dem Katalog auf dieser Seite vergleiche, könnten das die Leipziger Aluminium-Ansatzleuchten sein. Die standen ab Anfang der Siebziger.“ Was es nicht alles gibt.
Klarer Fall für den Historiker
Unsere Indizien bleiben aber allesamt zu vage. Näher als „1970 plusminus zwei Jahre“ kommen wir nicht heran. Ein Besuch beim Verein für die Geschichte Berlins sollte Klarheit schaffen. Für den Historiker Manfred Funke, Jahrgang 1940, war die Sache erstaunlich schnell klar: „Das muss Ende `68 sein.“ Ein einziger Blick auf das Bild mit dem Fernsehturm brachte die Erkenntnis.
„Der Turm ist zwar fertig, aber es fehlt am Fuße die Umbauung mit der Treppenanlage – auf dem Foto kann noch keine Eröffnung gewesen sein.“ Auch dass die Häuser im Hintergrund noch stehen, sei dafür ein Indiz. „Die wurden alle später abgerissen.“
Untermauert wird seine Beweisführung von der Litfaßsäule vorm Deutschen Dom auf dem Bild des Gendarmenmarkts: Ein großes weißes Plakat, darauf ein junges Frauengesicht und der Satz „Ich bin 20“. „Damit sollte das Volk schon auf das Jubiläum 1969 eingestimmt werden“, sagt Funke. „Das Mädchen ist so alt ist wie die DDR“.
Die Litfaßsäule am Gendarmenmarkt
Bei genauerem Hinsehen lässt sich im unteren Bereich ein weißes Plakat mit einem schwach erkennbaren Logo ausmachen. Aber deutlich genug für Manfred Funke: „Das ist Werbung für die 12. Berliner Festtage vom 9.-12. Oktober 1968“, sagt er prompt. „Ausländische Theatergruppen und Orchester spielten da auf den Ost-Berliner Bühnen.“
Ein Griff ins Regal und ein Blick in die Zeittafel „Unsere Kultur“, herausgegeben von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, ergänzt: In jenem Jahr gastierten unter anderen das Staatliche Symphonieorchester der UdSSR, das Nationaltheater Warschau und der Violinist Igor Oistrach. „Klarer Fall“, strahlt Funke mit ein wenig Stolz im Gesicht.
Das Jahr des Prager Frühlings
Conclusio: 1968, sieben Jahre nach dem Mauerbau, das Jahr des Prager Frühlings. Die Berliner Festtage stehen bevor, das Theater macht noch Ferien (so steht es auf einem Banner am Friedrichstadtpalast), wolkenfreier Himmel, Mütter lassen ihre Töchter in Sommerkleidchen herumlaufen.
Aus dem Archiv des Wetterdienstes MeteoMedia geht hervor: „1968 gab es am 8.8. sowie am 23.8. rund 12 Stunden Sonnenschein mit Sommertemperaturen.“ Danke, lieber Kollege für diese Zeitreise. Für drei Euro.
Und wenn Sie sich auf den Bildern wiedererkennen oder gar der Fotograf sind, dann melden Sie sich doch per Mail bei uns .