Nuha hat vier Kinder und sagt von sich selbst: „Ich bin jetzt der Mann.“ Ihr Ehemann ist zwischen den Fronten in Syrien gefangen und sie floh alleine ins Nachbarland Jordanien. Die Bäuerin kämpft nun jeden Tag ums Überleben und darum, ihren Kindern wenigstens ein bisschen Hoffnung und Zukunft zu bieten. Ihr 19-jähriger Sohn kellnert in einem Restaurant, ein Knochenjob ohne Regelarbeitszeiten. Sie selbst findet keine Arbeit, weil sie keine Schulbildung hat und mit 16 bereits verheiratet wurde.
Flüchtling zu sein und Frau – das bedeutet doppelt so viele Herausforderungen, Schmerzen und Gefahren. Weltweit sind 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Diese Zahlen sind so unbegreiflich groß, dass es hilft, sich an Frauen wie Nuha zu erinnern. Allein in Jordanien sind drei Viertel der dorthin geflohenen Menschen aus Syrien Frauen und Mädchen. Natürlich haben sie die gleichen Grundbedürfnisse wie Männer und Jungen: ein sicheres Dach über dem Kopf, Nahrung und Wasser, ärztliche Versorgung und Bildung. Aber sie haben auch Bedürfnisse, die besonders berücksichtigt werden müssen: für ihre Monatshygiene, ihre Familienplanung, die Sicherheit auf den Straßen und zu Hause, für ihr Wissen um ihre Rechte und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt im Exil.
Seit 2017 gibt es das World Refugee Council, einen internationalen Zusammenschluss von politischen Entscheidern, Menschenrechtsaktivisten und Experten, dem auch ich angehöre. Wir beraten auf globaler Ebene darüber, das derzeitige System der Flüchtlingspolitik zu reformieren, Menschen, die sich auf die Flucht begeben müssen, besser zu unterstützen, und die Lasten besser zu verteilen. Wir brauchen passgenauere Lösungen für Menschen, die seit Jahren im Exil leben und kaum eine Chance haben, zurückzukehren. Wir brauchen faire Aufnahmeregeln in Drittstaaten und vor allem benötigen wir ein klares politisches Einstehen für den Schutz von Frauen und Mädchen auf der Flucht. Und ein klares Einstehen dafür, dass Frauen genauso an Friedensprozessen beteiligt werden wie Männer. Denn oft werden ihre Stimmen kaum gehört, wenn an den Verhandlungstischen die Entscheidungen über ihre Zukunft gefällt werden. Wir müssen damit aufhören, Frauen vor allem als Opfer zu betrachten. Denn oft sind sie es, die in der Situation der Flucht die alleinige Verantwortung für ihre Familien tragen und diese auch wahrnehmen.
Ein Team von CARE lief diese Woche durch die jordanische Wüste, 242 Kilometer vom Toten zum Roten Meer. Mit dabei war der Generalsekretär dieser renommierten Hilfsorganisation, deren Schirmherrin ich seit vielen Jahren gerne bin. Mit dabei waren auch CARE-Mitarbeiterinnen, die nicht nur am Schreibtisch für die Rechte von Frauen und Mädchen einstehen wollten. Ein Lauf gegen das Vergessen und für diejenigen, deren Stimmen zu selten Gehör finden.
Prof. Dr. Rita Süssmuth war Präsidentin des Deutschen Bundestages von 1988 bis 1998. Sie ist Schirmherrin von CARE Deutschland e. V.