Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hat die Sitzblockaden von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) und anderen Politikern und Demonstranten gerügt. „Ich halte es für höchst problematisch, wenn 51 Prozent, 70 Prozent oder auch 95 Prozent entscheiden, ob andere ihr demokratisches Recht in Anspruch nehmen.“ Ob und welche strafbare Handlung vorliege, müsse jetzt geklärt werden. Es gebe zwar ein „Widerstandsrecht von Demokraten" - aber nur dann, "wenn demokratische Rechte vom Staat missachtet werden". Das sei im Fall der - angemeldeten und auch genehmigten - Demonstration von Rechtsextremisten durch Prenzlauer Berg aber nicht der Fall gewesen, sagte Körting im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses.
Laut Körting werde dann auch untersucht, ob es für den Bezirksbürgermeister Matthias Köhne (SPD) und den Integrationsbeauftragten Günter Piening arbeitsrechtliche Sanktionen wie ein Disziplinarverfahren oder eine Abmahnung geben könne. Neben etwa 20 nicht prominenten Demonstranten beteiligten sich auch die Grünen-Parlamentarier aus dem Bundestag und dem Abgeordnetenhaus, Wolfgang Wieland und Bendedikt Lux, an der Blockade.
Wie ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft Morgenpost Online sagte, prüft die Behörde, ob es den Anfangsverdacht einer Straftat gibt. Von den Ermittlungen betroffen sind auch der Grünen-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wieland und der Bezirksbürgermeister von Berlin-Pankow, Matthias Köhne (SPD), die sich ebenfalls an der Sitzblockade beteiligt hatten. Ein solcher Protest gegen eine erlaubte Demonstration kann als Ordnungswidrigkeit oder auch als Nötigung gewertet werden.
Während der Gegendemonstration am Sonnabend hatte Körting Thierse ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Sitzblockade einen Rechtsverstoß darstellt: Er haben „den lieben Wolfgang“ persönlich angesprochen und ihm eine „freundschaftliche Rechtsbelehrung erteilt“, hatte Körting berichtet. „Ich finde es nicht so toll, wenn ein Mitglied einer Verfassungsinstitution einen Rechtsbruch begeht“, sagte Körting. Für den Senator war die Thierse-Aktion eindeutig eine „rechtswidrige Handlung“. Körting: „Auch Bundestagsabgeordnete stehen nicht über dem Grundgesetz“, sagte am Sonntag Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD).
Am Montag kritisierten weitere SPD-Politiker die Thierse-Aktion. Im Berliner Innenausschuss sagte der verfassungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Tom Schreiber: „Es kann nicht sein, dass Politiker, die Vorbildfunktion haben, offensichtlichen Rechtsbruch begehen.“ Er fügte hinzu: „Es darf auch nicht sein, dass man seine Immunität schamlos ausnutzt. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln.“
Die SPD-Abgeordnete Anja Härtel sagte: „Ich habe ein Problem mit Demokraten, die meinen, sich über das Gesetz stellen zu können. Das darf nicht sein.“ Es sei auch nicht besonders mutig, mit seinem Abgeordnetenausweis durch die Polizeisperren zu gehen, sich dann unter Polizeischutz auf die Straße zu setzen, um schließlich umgehend Interviews zu geben.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hielt Thierse „Arroganz gegenüber dem Staat“ vor. De Mazière sagte der „Leipziger Volkszeitung“ (Dienstag-Ausgabe): „Der Herr Thierse wollte, glaube ich, erneut mal wieder öffentliche Beachtung haben. Aber das auf Kosten der Polizei – das geht nicht.“ Das Recht sei aber für alle gleich, meinte der Bundesinnenminister. „Niemand steht über dem Gesetz, auch kein Bundestagsabgeordneter und erst recht kein Bundestagsvizepräsident. Im Gegenteil. Ein Bundestagsvizepräsident müsste sich vorbildlich verhalten.“
Thierse rechtfertigte sich mit einer Mitteilung, die er über seine Internetseite verbreitete : "Unser Protest war friedlich, fröhlich und gewaltfrei. Nachdem die Polizei mehrfach dazu aufgefordert hatte und ein Einsatzleiter der Polizei mich im persönlichen Gespräch bat, die Sitzblockade aufzuheben, verließ ich mit seiner Hilfe widerstandslos die Fahrbahn. Denn unser Protest richtete sich nicht gegen die Polizei, sondern gegen die Nazis. Die Beamten erfüllen ihre polizeiliche Pflicht und wir Demonstranten tun unsere staatsbürgerliche Pflicht.“
Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert wegen der Sitzblockade Thierses Rücktritt. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sagte: „Herr Thierse hat Einsatzkräfte der Polizei behindert.“ Das sei Nötigung. „Aber viel schlimmer ist, dass jemand, der ein so hohes Staatsamt bekleidet, öffentlich Rechtsbruch zelebriert“, sagte Wendt dem Nachrichtensender N24. „Er sollte seinen Hut nehmen.“
Rund 700 NPD-Anhänger hatten am Samstag quer durch Thierses Berliner Wahlkreis ziehen wollen. Angesichts von rund 6000 Gegendemonstranten und wiederholten Sitzblockaden mussten die Rechtsextremen aber nach einigen hundert Metern umkehren. Unter dem Applaus der Demonstranten hinter den Polizeiabsperrungen hatte auch Thierse mit weiteren Berliner Politikern den Zug kurzzeitig blockiert. Nach einer ähnlichen Blockade im Februar in Dresden hatte die dortige Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen mehrere Linken-Landespolitiker aufgenommen.
Ähnlich wie Wendt äußerte sich am Montag der Berliner FDP- Innenpolitiker Björn Jotzo. Er sprach von einer unerträglichen und rechtswidrigen „PR-Sitzblockade“ Thierses. „Es ist völlig inakzeptabel, wenn Mitglieder von Verfassungsinstitutionen mithilfe ihrer Abgeordnetenprivilegien Polizeisperren überwinden und dann anschließend in unverantwortlicher Weise und offensichtlich rechtswidrig die Grundrechte anderer Bürger missachten und die Arbeit der Polizei erschweren.“ Thierse habe aus „reiner Öffentlichkeitsgeilheit“ eine Verschärfung der Lage in Kauf genommen.
Unterstützung bekam Thierse dagegen vom Zentralrat der Juden in Deutschland: „Wenn jemand Gesicht zeigt gegen die Fratze des Faschismus, dann verdient er Respekt“, sagte Zentralrats-Vizepräsident Dieter Graumann. „Jenseits aller juristischen Überlegungen, sollten wir Thierse Bewunderung zollen, dass er sich engagiert hat gegen den braunen Mob“, sagte Graumann. „Das alles jetzt nieder zu machen, halte ich für Unfug.“ Thierse habe seine Bekanntheit genutzt, um sich gegen die Neonazis zu stellen.